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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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hallte Kamals verzweifelter Ruf ihr nach. Doch obwohl alles in ihr sie dazu drängte umzukehren, blieb Sarah hart und reagierte auch diesmal nicht. Natürlich erinnerte sie sich an den Eid, den sie geleistet hatte – und eben weil sie vorhatte, ihn zu erfüllen, durfte sie nicht nachgeben.
    Hätte Sarah Kincaid geahnt, dass sie damit wertvolle Augenblicke vergeudete, hätte sie sich anders entschieden.
    In Gedanken führte Sarah Buch. Jede Zelle und jede Biegung, jede Treppe und jede Kreuzung wurden auf der Planskizze, die sie in ihrem Kopf anfertigte, genau vermerkt. Ihre Erfahrung als Archäologin kam ihr dabei zugute, denn es war manches Mal vorgekommen, dass ihr Vater und sie in versunkene Grabkammern und unterirdische Katakomben eingedrungen waren und es überlebensnotwendig gewesen war, sich den exakten Weg zu merken. Bei ihren bisherigen Gängen durch die finsteren, stinkenden Innereien des Gefängnisses war Sarah abgelenkt gewesen und entsprechend orientierungslos – nun jedoch verwandte sie ihre ganze Konzentration darauf, sich den Weg genau einzuprägen.
    Den Weg in die Freiheit …
    Sie passierten manche Zelle, deren Insassen sie mit unflätigen Bemerkungen bedachten, die der Wärter augenblicklich mit dem Schlagstock ahndete. Im nächsten Moment erhielten sie Gesellschaft – vier Gefängniswärter kamen ihnen auf dem spärlich beleuchteten Gang entgegen. Schweigend gingen sie an ihnen vorbei, und vermutlich hätte Sarah sie in ihrer Konzentration nicht einmal bemerkt, hätte sie nicht plötzlich etwas empfunden.
    Ein Gefühl von Bedrohung!
    Dieselbe unheimliche Aura, die sie auch in Yorkshire verspürt hatte, als jener unheimliche Schemen sie im Nebel verfolgte! War er am Ende doch mehr gewesen als der wiederkehrende Schatten alter Ängste?
    »Is’ was, Ma’am?«, erkundigte sich der Gefängniswärter, als Sarah abrupt stehen blieb.
    »Nein, nur …« Sie zögerte, war sich nicht sicher, ob sie etwas sagen sollte. »Diese Männer, denen wir gerade begegnet sind – waren das auch Wachleute?«
    »Scheint so.«
    »Warum sagen Sie das? Kennen Sie sie nicht?«
    »Nein, Ma’am – aber das hat nix zu sagen. Hier arbeiten viele Wachleute. Ist ’ne üble Beschäftigung, wissense. Kann nich’ jeder machen …«
    »Verstehe«, sagte Sarah nachdenklich und wollte ihren Weg fortsetzen – aber sie konnte es nicht. Denn plötzlich waren all ihre Befürchtungen und dunklen Vorahnungen zurück. Einer Springflut gleich brachen sie in ihr Bewusstsein und schwemmten alle Vernunft hinfort.
    »Zurück«, sagte sie nur. »Ich muss zurück.«
    »Wohin?«
    »Zu Mr. Ben Naras Zelle.«
    »Aber …«
    Sarah hatte keine Zeit, sich mit Erklärungen aufzuhalten. Sie fuhr herum, und indem sie den Saum ihres Kleides mit den Händen raffte, um schneller laufen zu können, setzte sie den Gang hinab, dem Weg folgend, den sie sich eingeprägt hatte. Dass sie ihr Vorhaben, Kamal zu befreien, dadurch verraten könnte, war ihr gleichgültig. Der Drang, augenblicklich zu ihrem Geliebten zurückzukehren und nach ihm zu sehen, war so überwältigend, dass Sarah ihm nicht widerstehen konnte.
    Erinnerungen an ihren Vater wurden wach. Auch damals war sie durch dunkle Labyrinthe geirrt, auf der verzweifelten Suche nach Gardiner Kincaid – um ihn schließlich in seinem eigenen Blute liegend vorzufinden. Inständig hoffte sie, dass sie Kamal unversehrt in seiner Zelle antreffen und ihre Ängste sich lediglich als Reflexionen dunkler Erinnerungen erweisen würden – aber diese Hoffnung zerschlug sich schon kurz darauf.
    »Kamal!«, rief Sarah schon von Weitem und zur Freude einiger Häftlinge, die mit derben Zoten antworteten. »Kamal …!«
    Doch von ihrem Geliebten kam keine Reaktion.
    Gefolgt von dem Gefängniswärter, der ihr keuchend auf den Fersen blieb, bog Sarah in den schmalen Korridor, an dessen Ende sich Kamals Zelle befand – und sah zu ihrem Entsetzen, dass die Tür weit offen stand. »Kamal …?«
    Er lag rücklings auf dem Boden, allerdings nicht so, als ob er niedergeschlagen und zusammengebrochen wäre, sondern unnatürlich ausgestreckt und mit über der Brust gekreuzten Armen.
    Auf seiner Stirn prangte ein Zeichen.
    Drei Buchstaben, mit Ruß gemalt.
    A, M und T …
    »Kamal!«
    Sarahs Stimme überschlug sich. Ohne den Wärter um Erlaubnis zu fragen, drang sie in die Zelle ein, fiel an der Seite ihres reglos daliegenden Geliebten nieder.
    Seine Gesichtszüge waren stolz und würdevoll wie immer, weder die Entbehrung noch

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