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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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der Entzug des Sonnenlichts hatten daran etwas ändern können. Kamals Wangen waren grau, seine Augen geschlossen. Sein Mund hingegen stand halb offen, aber Sarah konnte keinen Atem feststellen …
    »Kamal! Kamal …!«
    Immerzu rief sie seinen Namen, während sie ihn an den Schultern packte und rüttelte – doch Kamal erwachte nicht. Sarahs Rufe erstarben auf ihren Lippen. Angstschweiß stieg ihr auf die Stirn, während sie panisch nach einem Lebenszeichen suchte. Mit zitternden Händen fühlte sie Kamals Puls, aber sie fand ihn nicht.
    »Nein«, schluchzte Sarah flehend, »bitte nicht noch einmal …«
    In ihrer Verzweiflung sank sie vornüber und legte ihren Kopf auf seine Brust, um daran zu horchen. Dabei umarmte sie ihn, als könnte sie ihn so im Leben halten. Tränen traten ihr in die Augen, während sie verzweifelt lauschte.
    Plötzlich ein Herzschlag.
    Er war schwach und verhalten, aber es war ein Lebenszeichen.
    »K-Kamal …?«
    Sarah horchte abermals und konnte tatsächlich einen zweiten Herzschlag vernehmen. Auch dieser war schwach und die Frequenz beängstigend niedrig. Zudem sah Sarah jetzt die winzigen Schweißperlen auf der Stirn ihres Geliebten. Sanft wischte sie darüber und fühlte heiße Haut unter ihren Händen.
    Fieber, schoss es ihr durch den Kopf.
    Kamal hatte Fieber …
    »Einen Arzt!«, rief Sarah laut. »Wir brauchen einen Arzt! Es geht um Leben und Tod …«
    Der tumbe Wachmann erwiderte etwas Unverständliches, dann hob er die Trillerpfeife, die er an einem kurzen Band um den Hals hängen hatte, und stieß mehrmals kurz hintereinander hinein. Das Trillern, das daraufhin durch das Gewölbe hallte, war so schrill und durchdringend, dass es gehört werden musste – und prompt wurde es beantwortet.
    »Ich habe das Notsignal gegeben. Dr. Billings befindet sich bereits auf dem Weg.«
    »Billings? Wer ist das?«
    »Der Anstaltsarzt«, erwiderte der Wärter, worauf Sarah ein wenig Hoffnung schöpfte – auch wenn sie bezweifelte, dass ein Gefängnisdoktor Kamal würde helfen können. Was auch immer ihrem Geliebten widerfahren war, was auch immer ihn gefangen hielt, schien tiefer zu sein als jeder Schlaf und jede Ohnmacht.
    »Es wird alles gut, Kamal«, sprach sie flüsternd auf ihn ein. »Hörst du? Es wird alles gut …«
    Zitternd tastete sie nach seiner rechten Hand, um sie zu ergreifen und ihm Trost zuzusprechen, wie er es oft bei ihr getan hatte. Dabei fiel ihr Blick auf seinen halb geöffneten Mund – und sie erkannte, dass seine Zunge seltsam nach oben gewölbt war, als würde sich etwas darunter befinden …
    Jäh wurde Sarah bewusst, dass sie diese Situation schon einmal durchlebt hatte – in ihrem Traum, der sich auf bizarre Weise zu bewahrheiten schien. Ein Schaudern, wie sie es zuvor noch nie verspürt hatte, ergriff von ihr Besitz. Mit zitternden Händen öffnete sie den Mund ihres bewusstlosen Geliebten und griff hinein.
    Ihr Eindruck hatte sie nicht getrogen!
    Tatsächlich lag etwas unter Kamals Zunge – allerdings war es kein Geldstück, wie Sarah befürchtet hatte, sondern ein kleines Stück Papier. Sarah nahm es zur Hand und entfaltete es – und sog scharf die Luft ein, als sie erkannte, was sich darauf befand.
    Es war nur eine einfache Zeichnung, aber für denjenigen, der sie zu deuten wusste, kam sie einer Todesdrohung gleich: eine Ellipse, ringsum mit zahlreichen, strahlenförmigen Ornamenten versehen.
    »Das Auge des Zyklopen«, entfuhr es Sarah atemlos, und sie ließ den Zettel fallen, als wäre er mit Gift getränkt.
    Was dieses unscheinbare Zeichen, was dieser Fund bedeutete, war unmöglich auf einen Schlag zu erfassen. Nur eines war Sarah klar: dass Kamals Vermutung richtig gewesen war.
    Jene ebenso unheimliche wie dunkle Macht, die schon zweimal in ihr Leben getreten war und die sowohl den Tod Maurice du Gards als auch den Mord an ihrem Vater zu verantworten hatte, war weder besiegt noch zerschlagen, sondern existierte noch immer.
    Und sie hatte sich bitter gerächt …
    S ANITÄTSSTATION N EWGATE , L ONDON
A BEND DES 26. S EPTEMBER 1884
    »Ich weiß nicht«, sagte der Arzt zum ungezählten Mal, während er ratlos auf die reglosen Züge Kamal Ben Naras blickte.
    »Was wissen Sie nicht, Doktor?«, erkundigte sich Sarah, deren Geduld allmählich am Ende war. Seit Stunden waren vier Mediziner damit beschäftigt, Kamal zu untersuchen. Sie wechselten vieldeutige Blicke und jonglierten mit lateinischen Termini wie Straßenjungen mit faulen Äpfeln – zu einem

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