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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Geschichte sich nur wiederholt?«, erkundigte sich Laydon. »Dass deinem Geliebten Kamal genau das zugestoßen ist, was dir vor so vielen Jahren widerfuhr?«
    »D-du meinst …?«
    »Ein rätselhaftes Fieber hatte dich befallen, wie du weißt, das dich über Wochen in seinen Klauen hielt. Du hattest das Bewusstsein verloren, und der alte Gardiner glaubte dich bereits verloren. Du hast hoffentlich nicht vergessen, wer es damals war, der dich vom Fieber heilte …«
    »Und du glaubst, Kamal wäre vom selben Fieber befallen?«, erkundigte sich Sarah, Laydons Eigenlob geflissentlich übergehend.
    »Es wäre möglich, oder nicht?«
    Sarah konnte nicht anders, als zu nicken.
    Warum nur, fragte sie sich, war sie noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen? Wahrscheinlich, weil sich daraus eine Folgerung ergab, die Sarah noch ungleich mehr ängstigte als die Gegenwart Laydons und alles, was er ihr noch enthüllen mochte. Denn wenn das Fieber, das Sarah als junges Mädchen befallen hatte, und jenes, das Kamal in seinen Klauen hielt, desselben Ursprungs waren, so bedeutete dies nicht mehr und nicht weniger, als dass jene dunkle Macht, die nach ihrer bisherigen Überzeugung erstmals in Paris ihre Wege gekreuzt hatte, in Wahrheit bereits früher in ihr Leben getreten war.
    Viel früher.
    Und bereits damals hatte sie es verändert …
    »Angenommen, es wäre so«, flüsterte Sarah, schaudernd ob dieser erschreckenden Vorstellung, »was würde es für Kamal bedeuten? Kann er geheilt werden?«
    »So wie du damals?«
    Sie nickte.
    »Lass es mich so ausdrücken, mein Kind. Wenn Kamal tatsächlich am Dunkelfieber leidet, so ist er so gut wie tot und befindet sich bereits auf dem Weg ins Jenseits. Willst du dies rückgängig machen, dann musst du dort suchen, wo Lebloses lebendig wird. Aber ich warne dich, denn die Reise führt dich geradewegs in die Finsternis.«
    »Wo genau?«, fragte Sarah schnaubend. »Wo muss ich suchen?«
    »Wo wohl?«, erwiderte Laydon, und in diesem Augenblick schien die Klarheit, die seinen von Irrsinn umwölkten Geist erhellt hatte, wieder nachzulassen. »Natürlich dort, wo alles angefangen hat«, murmelte er kaum verständlich. »Wo aus der Leblosigkeit Leben geschaffen wurde.«
    »Was soll das nun wieder heißen?« Sarah hob die Brauen, argwöhnend, dass es Laydon einmal mehr nur darum ging, sie zu demütigen – doch es schien ihm ernst damit zu sein, denn sein gackerndes Gelächter blieb diesmal aus. »Wovon sprichst du? Vom Schöpfungsbericht?«
    »Hat dich der alte Gardiner die Geheimnisse des Alten Testaments nicht zu deuten gelehrt? Der Tora? Der Bibel? Bist du mit dem Wort des Allmächtigen nicht vertraut?«
    »Vertraut genug, um zu wissen, dass Frevler wie du es nicht in den Mund nehmen sollten«, konterte Sarah eisig.
    »Im Buch Genesis steht geschrieben: ›Die Erde aber war wüst und wirr. Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser‹.«
    »Und?«, fragte Sarah – doch die einzige Antwort, die sie erhielt, war schadenfrohes Gelächter. Laydons Blick schien nicht mehr ihr zu gelten, sondern in ungeahnte Ferne zu reichen. Was auch immer der Verbrecher sehen mochte, mit der Wirklichkeit schien es nichts mehr gemein zu haben. Das kreischende Gelächter kehrte wieder, und Laydons Geist sank zurück in jenen Dämmerzustand, aus dem Sarah ihn für kurze Zeit geweckt zu haben schien.
    »Du hast den Verstand verloren«, stellte sie fest.
    »Vielleicht – aber die Juden sind die Leute, denen man nicht von ungefähr die Schuld geben wird«, krächzte Laydon und lachte so ausladend und keifend, dass sich seine Stimme überschlug und er zu würgen begann. Dabei verdrehte er die Augen so, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
    Angewidert wandte sich Sarah ab. Sie konnte es nicht erwarten, die Mauern von Newgate hinter sich zu lassen und endlich wieder freie Luft zu atmen.
    Erleichterung durchströmte sie, als sie die Kammer verließ und nicht länger in die vom Wahnsinn fiebrigen Augen des Mörders blicken musste. Und während sein röchelndes Gelächter hinter ihr zurückfiel, wurde ihr klar, dass jener hauchdünne Faden, der Mortimer Laydons Verstand bislang noch vor dem Absturz in ungeahnte Tiefen bewahrt hatte, wohl endgültig gerissen war.

9.
    P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
    Zu sagen, dass ich innerlich aufgewühlt war, als ich das Gefängnis von Newgate verließ, wäre eine dreiste Untertreibung. Ich wusste, dass die Konfrontation mit Mortimer

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