Am Ufer Des Styx
roch den Moder und die Fäulnis. Sie hatte keine Ahnung, was Laydon mit dieser Frage bezwecken wollte, hielt sie nur für einen weiteren Versuch, mit ihr zu spielen. Folglich wollte sie es möglichst rasch hinter sich bringen.
»Ich bin Sarah Kincaid«, antwortete sie, »die Tochter Gardiner Kincaids, den du umgebracht hast.«
»Falsche Antwort«, entgegnete Laydon schlicht. »Aber ich bin heute großmütig gelaunt, also gewähre ich dir einen weiteren Versuch.«
»Dir zu sagen, wer ich bin?«
»Genau das.«
»Ich sagte es dir gerade – ich bin die Tochter des Mannes, den du ermordet hast.«
»Und diese Antwort ist falsch!«, brüllte Laydon in einem wilden Wutausbruch, der Sarah zusammenfahren ließ. Jäh wurde ihr bewusst, dass sie einem gefährlichen Kriminellen gegenübersaß, einem Monstrum in Menschengestalt, dessen Innerstes wahre Abgründe offenbart hatte. »Das ist nicht die Antwort, nach der ich suche.«
»Tut mir leid, wenn dir die Wahrheit nicht gefällt«, beschied Sarah ihm ungerührt, »aber so ist es nun einmal.«
»Mein Kind«, flüsterte er in einer plötzlichen Stimmungswandlung, deren Ursprung nur ein kranker Verstand sein konnte. »Ist dir je der Gedanke gekommen, dass das, was du in all den Jahren für die Wahrheit gehalten hast, nicht zwingend auch die Wahrheit sein muss?«
»Nein!«, sagte sie energisch und hob gebietend den rechten Zeigefinger. »Du wirst das nicht tun! Du wirst keine Zweifel in mein Herz säen, hörst du?«
»Eine Saat kann nur gedeihen, wo sie auf fruchtbaren Boden trifft«, konterte Laydon gelassen, »und der Nährgrund des Zweifels ist die Ungewissheit. Gibt es denn Dinge, über die du dir im Unklaren bist, Sarah Kincaid?«
»Nein«, behauptete sie.
»Ich sehe deinen Trotz. Den Trotz eines kleinen Kindes. Bist du schon immer so gewesen, Sarah?«
Sarahs Atem ging keuchend, ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Inzwischen hatte sie erkannt, worauf Laydon hinauswollte, und es gefiel ihr ganz und gar nicht …
»Du weißt es nicht«, stellte er unerbittlich fest. »Ganz einfach deshalb, weil du dich an deine Kindheit nicht erinnern kannst, nicht wahr? Weil du nichts von dem weißt, was sich vor deinem achten Lebensjahr ereignet hat, richtig?«
»Was hat das denn hiermit zu tun?«, fragte sie, während sie sich unter seinen stechenden Blicken wand und das Gefühl hatte, als würde sie nackt und bloß vor ihm sitzen.
»Alles«, sagte er nur. »Die Dunkelzeit birgt manches Rätsel.«
»Was weißt du darüber?«, zischte Sarah. »Los, sag es mir!«
»Wolltest du nicht eigentlich wissen, wie du deinem geliebten Kamal helfen kannst?« Laydon schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Wie rasch sich deine Interessen ändern …«
»Du drehst mir das Wort im Mund herum.«
»Und du willst nicht hören, was ich sage. Noch immer bist du mir eine Antwort schuldig, Sarah: Wer bist du?«
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich sage es dir wieder«, erwiderte sie mit bebender, fast brüchiger Stimme. »Ich bin Sarah Kincaid, die Tochter von Lord …«
»Blind bist du, Sarah Kincaid«, fiel Laydon ihr barsch ins Wort. »Zu blind und zu ängstlich, um das Offensichtliche zu erkennen.«
»Was meinst du damit?«
»Wer ist deine Mutter? Hast du sie je kennen gelernt?«
»Sie starb bei meiner Geburt, wie du weißt.«
»Hat dein Vater dir je von ihr erzählt? Hat er dir je gesagt, dass er etwas von ihrem Bildnis in dir wiederfindet?«
»Was tut das zur Sache?«
»Hat er es je gesagt?«, brüllte Laydon so laut, dass die Tür der Verhörkammer geöffnet wurde und die besorgten Gesichter der beiden Gefängniswärter erschienen. Mit einem Handzeichen gab Sarah ihnen zu verstehen, dass alles in Ordnung wäre – auch wenn sie es ganz und gar nicht so empfand. Ihre Hände waren schwitzig, jedoch eisig kalt; die Farbe war aus ihren Zügen gewichen. Und sie fühlte Übelkeit, die wie ein giftiges Reptil aus ihrem Magen emporkroch …
»Nein«, antwortete sie und gab sich Mühe, dabei so würdevoll wie möglich zu klingen, »das hat er nicht. Aber das ändert nichts.«
»Woran ändert es nichts?«
»An der Tatsache, dass ich Gardiner Kincaids Tochter bin.«
»Und wenn ich dir sagte, dass es nicht so ist?«
»Ich würde dir nicht glauben.«
»Und wenn ich dir etwas enthüllen würde? Etwas, das Gardiner sein Leben lang wusste, das dir zu gestehen er jedoch niemals den Mut aufgebracht hat?«
»So etwas gibt es nicht.«
»Bist du dir da auch ganz sicher? Hat nicht die Suche
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