Am Ufer Des Styx
in die Finsternis hatte Laydon gesprochen; zumindest in dieser Hinsicht scheint er Recht zu behalten …
M AYFAIR , L ONDON
27. S EPTEMBER 1884
»Wie geht es Ihnen?«
Sarah schreckte auf. In dem breiten Ledersessel sitzend, der die Mitte von Jeffrey Hulls kleiner, hauptsächlich Werken der Rechtswissenschaft gewidmeter Bibliothek einnahm, war sie tief in ihre Lektüre versunken gewesen.
»Sir Jeffrey!«, entfuhr es ihr. »Ich habe Sie gar nicht kommen gehört …«
»Das wundert mich nicht«, erklärte der Q. C. mit mildem Lächeln. »Sie hatten die Augen geschlossen, als ich eintrat.«
»Die Augen geschlossen? Wirklich?« Sarahs Überraschung war echt. Wenn sie tatsächlich für einige Minuten eingenickt war, so hatte sie es nicht einmal bemerkt …
»Wie viel Schlaf hatten Sie vergangene Nacht?«
»Nicht eine einzige Stunde«, bekannte Sarah müde.
»Ich verstehe.« Sir Jeffrey nickte. »Dennoch wird es Sie freuen zu hören, dass es gute Nachrichten gibt.«
»Tatsächlich?«
»Ich komme soeben vom Supreme Court«, gab der königliche Berater bekannt. »Aufgrund der jüngsten Entwicklungen habe ich eine vorläufige Aussetzung des Gerichtstermins erwirken können. Als Nächstes werde ich in Newgate einen Antrag auf vorübergehende Haftentlassung stellen. Vermutlich wird man darauf bestehen, Kamal weiter zu beaufsichtigen, aber wenn ich vorschlage, ihn hier in meinem Haus unterzubringen, so sollte das Wort eines verdienten Barristers 2 doch einiges Gewicht haben. Dann wäre Kamal hier bei uns, und Sie könnten immer bei ihm sein.«
»Das wäre wunderbar«, erwiderte Sarah. »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Sir Jeffrey.«
»Und das ist alles?«
»Wie darf ich diese Frage verstehen?«
»Darf ich ehrlich sein, werte Freundin?«
»Ich bitte darum.« Sarah nickte.
»Offen gestanden, hatte ich erwartet, dass Sie ein wenig mehr Freude empfinden würden«, räumte Sir Jeffrey ein. »Stattdessen finde ich Sie völlig übermüdet in meiner Bibliothek. Was hat das zu bedeuten, Sarah? Welche Lektüre könnte so wichtig sein, dass sie Sie davon abhält, zu Bett zu gehen und sich einige Stunden dringend benötigten Schlafes zu g …«
Er unterbrach sich, als Sarah das in Leder geschlagene Buch hochhielt, sodass er den goldgeprägten Titel lesen konnte. »Das Alte Testament. Die Bücher Mose«, las er mit einiger Verblüffung.
»Sind Sie überrascht?«
»Ein wenig«, gab der königliche Berater zu. »Sind Sie zu dem Schluss gekommen, dass nur noch der Allmächtige Kamal retten kann?«
»Zu diesem Schluss, lieber Freund, bin ich schon vor einiger Zeit gelangt«, erwiderte Sarah mit mattem Lächeln. »In diesem Fall jedoch geht es mir um einen möglichen Hinweis, der in diesen Zeilen versteckt sein könnte.«
»Um einen Hinweis? Von wem?«, erkundigte sich der königliche Berater, und seinem misstrauischen Tonfall war zu entnehmen, dass er die Antwort bereits erahnte.
»Laydon«, sagte Sarah nur.
»Laydon«, echote Sir Jeffrey wenig begeistert. »Sarah, haben Sie denn trotz allem, was dieser Mann Ihnen angetan hat, noch immer nicht begriffen, wie gefährlich er ist? Dass er völlig den Verstand verloren hat? Dass er keine Gelegenheit auslassen wird, sich an Ihnen zu rächen und Ihnen zu schaden?«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst«, versicherte Sarah. »Die Sache ist nur, dass ich über weite Teile unseres Gesprächs ganz und gar nicht den Eindruck hatte, es mit einem gestörten Menschen zu tun zu haben. Die meiste Zeit über war Laydon klaren Verstandes.«
»Und er empfahl Ihnen, die Bibel zu durchforsten?«
»In der Tat.«
»Wonach?«
»Nach einem Heilmittel für Kamal«, entgegnete Sarah schlicht.
»Ist das Ihr Ernst?« Sir Jeffreys Verblüffung war dabei, in Entrüstung umzuschlagen. »Nachdem Sie einige der versiertesten Mediziner des Empires zu Rate gezogen haben, wollen Sie ausgerechnet dem Urteil eines überführten Mörders vertrauen?«
»Ich weiß, wie seltsam das in Ihren Ohren klingen muss, aber …«
»Nein, Sarah«, widersprach Hull streng, »›seltsam‹ ist nicht annähernd der treffende Ausdruck dafür. Laydon hat Ihren Vater getötet und mehrere junge Frauen bestialisch ermordet, was ihn wohl kaum zum Wunderheiler qualifiziert. Dennoch scheinen Sie seiner Meinung größere Bedeutung beizumessen als jener der Ärzte, die ich hinzuzog und die aus freundschaftlicher Verpflichtung zu mir keinen Augenblick gezögert haben, uns zu helfen.«
»Ich weiß, Sir Jeffrey, und bitte
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