Am Ufer Des Styx
glauben Sie mir, dass ich Ihnen aus tiefster Seele dafür dankbar bin«, beschwichtigte Sarah. »Aber dies hier ist etwas, das ich mit Worten unmöglich erklären kann. Ein Gefühl, verstehen Sie?«
»Es fällt mir außerordentlich schwer, meine Teure, es fällt mir außerordentlich schwer«, knirschte Sir Jeffrey, den nur das Selbstverständnis des Gentlemans davon abzuhalten schien, Sarah lauthals zu schelten. »Ich hatte Sie ausdrücklich vor dieser Begegnung gewarnt, denn mir war klar, dass Laydon jede Gelegenheit nutzen würde, Ihre Gedanken zu verpesten.«
»Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen«, versicherte Sarah. »Aber ich hatte keine andere Wahl, als mich Laydon noch einmal zu stellen.«
»Ist das der Grund dafür, dass Sie Newgate gestern Nacht wortlos verließen, ohne mit Direktor Sykes, Dr. Cranston oder mir auch nur ein Wort zu sprechen? Wollten Sie lieber Laydons Hinweisen nachgehen?« Die Kränkung im Tonfall des königlichen Beraters war unüberhörbar.
»Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung dafür an, Sir Jeffrey. Weder wollte ich unhöflich erscheinen noch Ihre Kompetenz oder die der anderen Gentlemen in Frage stellen. Es gab nur zunächst einige Dinge, über die ich mir klar werden musste, ehe ich mit Dritten darüber sprechen wollte.«
»Tatsächlich? Und was, wenn es erlaubt ist zu fragen, sind das für Dinge gewesen?«
Sarah hielt Sir Jeffreys forschendem Blick stand. Sie wusste, dass er ihr nur helfen wollte, sowohl in seiner Eigenschaft als Privatmann als auch als Jurist. Dennoch gab es Geheimnisse, die sie auch ihm nicht ohne Weiteres anvertrauen wollte, schon weil sie fürchtete, er könnte an ihrem Verstand zweifeln …
Sir Jeffrey bemerkte ihr Zögern, deshalb formulierte er seine Frage erneut, einfühlsamer und sanfter diesmal. »Sarah«, sagte er leise, »ich kann Sie nicht zwingen, mir zu vertrauen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Vater mir vertraut hat, und …«
»Mein Vater, ja?« Sarah lächelte schwach.
»… und dass ich alles Menschenmögliche unternehmen werde, um Ihnen zu helfen«, fuhr er fort, ohne auf die Zwischenbemerkung zu reagieren. »Aber das kann ich nur, wenn Sie mir berichten, was zwischen Ihnen und Laydon vorgefallen ist. Was hat der Schurke zu Ihnen gesagt, dass ich Sie nach einer durchwachten Nacht beim Studium der Bibel finde, leichenblass und mit dunklen Rändern um die Augen? Ich mache mir große Sorgen um Sie, Sarah – nicht nur als Ihr Anwalt, sondern auch als Ihr väterlicher Freund.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir Jeffrey. Aber ich darf Ihnen versichern, dass ich weder den Verstand verloren habe, noch so übermüdet bin, dass ich nicht mehr weiß, was ich tue.«
»Dann beschwöre ich Sie, mir zu sagen, was dies hier soll. Warum glauben Sie, dass ausgerechnet Laydon weiß, wie Kamal gerettet werden kann?«
»Die Antwort ist sehr einfach, Sir Jeffrey«, antwortete Sarah leise und mit belegter Stimme. »Weil Laydon auch mich gerettet hat.«
»W-wie darf ich das verstehen?«
»Hat Vater Ihnen gegenüber je den Ausdruck ›tempora atra‹ verwendet?«
»›Tempora atra‹?« Die ohnehin schon faltige Stirn des königlichen Beraters zerknitterte sich noch mehr. »Nicht, dass ich mich erinnerte …«
»Wussten Sie, dass ich als junges Mädchen krank war? Dass ich an einem rätselhaften Fieber litt und lange Zeit ohne Bewusstsein war?«
»Nein, Sarah, das wusste ich nicht«, versicherte Sir Jeffrey, dessen Zorn sich in ehrliche Bestürzung wandelte. »Nach Oxford hatten Gardiner und ich uns für eine Weile aus den Augen verloren.«
Sarah nickte. Obwohl es sie große Überwindung kostete, hatte sie beschlossen, Jeffrey Hull in ihr Geheimnis einzuweihen – in der dringenden Hoffnung, Kamal damit zu helfen …
»Wie man mir erzählte«, fuhr sie leise fort, »trat jenes Fieber von einem Tag zum anderen auf. Die Ärzte waren ratlos, und so blieb meinem Vater nichts, als Tag und Nacht an meinem Bett auszuharren und um ein Wunder zu beten. Es erfolgte schließlich – in Gestalt von Mortimer Laydon.«
»Laydon?«, ächzte Sir Jeffrey.
»Allerdings. Kein anderer als er ist es gewesen, der mich vom Fieber geheilt hat, allerdings zu einem hohen Preis.«
»Nämlich?«
»Ich kann mich an nichts erinnern, was sich vor diesem Zeitpunkt ereignet hat«, antwortete Sarah wahrheitsgemäß. »Meine gesamte Kindheit liegt unter einem Schleier des Vergessens verborgen. Diese Zeitspanne pflegte mein Vater als ›tempora atra‹ zu
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