Am Ufer Des Styx
jüdische Gemeinde zu beschützen. Eines Tages jedoch musste der Rabbi erkennen, dass seine Kreatur sich der Kontrolle mehr und mehr entzog und zur Bedrohung für die Stadt geworden war, worauf er ihn eigenhändig wieder vernichtete.«
»Eine überaus fesselnde Geschichte.« Sir Jeffrey nickte.
»Allerdings«, stimmte Sarah zu, »und sie ist noch nicht zu Ende. Zahllose Erzählungen ranken sich um Rabbi Löw und den Golem – was Sie soeben hörten, ist nur ein kleiner Teil davon. Darüber hinaus existieren verschiedene Mythen und Prophezeiungen, die sich um die Rückkehr des Golems ranken. In den einen heißt es, der Golem werde wiederkommen, wenn den Bewohnern der Josephsstadt erneut Gefahr drohe. Andere glauben, dass er nie wirklich verschwunden ist. Und wieder andere sehen in der Rückkehr des Golems ein Zeichen für das baldige Ende der Welt.«
»Darüber stand etwas in der Zeitung«, erinnerte sich Sir Jeffrey.
»Richtig«, stimmte Sarah zu. »Ein Rabbiner mit Namen Mordechai Oppenheim äußerte diesen Verdacht. Interessanterweise war ein Mann namens David Oppenheim vor rund einhundert Jahren Oberrabbiner der Prager Gemeinde. Wie es heißt, verfügte er über die größte Sammlung alter hebräischer Schriften seiner Zeit, und es wird vermutet, dass viele davon aus dem Nachlass von Rabbi Löw stammten.«
»Sie glauben an einen Zusammenhang?«
»Nun«, überlegte Sarah, »die Übereinstimmung des Namens legt die Vermutung nahe, dass Mordechai Oppenheim ein Nachkomme eben jenes Gelehrten ist – und dass sich in seinem Besitz möglicherweise dieselben alten Schriften befinden, die schon Rabbi Löw das Geheimnis der Schöpferkraft verrieten und somit die Erschaffung des Golems ermöglichten.«
»Kann sein«, räumte Sir Jeffrey ein. »Aber offen gestanden, verstehe ich noch nicht, was das alles mit Kamal und seinem bedauernswerten Zustand zu tun haben soll.«
»Nur noch einen Augenblick«, bat Sarah sich aus, »dazu komme ich gleich. Erinnern sich die Herren noch, in welchem Zustand ich Kamal vorfand, als ich zu seiner Zelle zurückkehrte?«
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, gab Cranston zur Antwort. »Sie fanden ihn auf dem Boden liegend, mit über der Brust gekreuzten Armen. Auf seine Stirn waren die Buchstaben A, M und T gezeichnet, in seinem Mund hatte er ein Stück Papier.«
»In der Tat«, stimmte Sarah zu und legte eine kurze Kunstpause ein, in der sie ihre beiden Zuhörer mit durchdringenden Blicken bedachte. »Wissen Sie, was die Überlieferung bezüglich des Rituals zu berichten weiß, mit dem der Golem zum Leben erweckt wurde?«, erkundigte sie sich dann.
»Sagen Sie es uns.«
»Der Sage nach vollführten der Rabbi und sein Diener eine ganze Reihe kultischer Handlungen. Im Wesentlichen waren es jedoch zwei Dinge, die die Figur aus Lehm in ein lebendes, atmendes Wesen verwandelt haben sollen: Zum einen wurde dem Golem ein Mal auf die Stirn gezeichnet, das sich aus den drei Buchstaben A, M und T zusammensetzte.«
»Nicht möglich!«, rief Sir Jeffrey aus.
»Und was bedeuten diese Buchstaben?«, wollte Cranston wissen.
»Es ist ein Kryptogramm«, erklärte Sarah, »eines jener Buchstabenrätsel, die sich im Mittelalter unglaublicher Beliebtheit erfreuten – übrigens nicht nur im Judentum. Sie spiegeln das tief verwurzelte Bedürfnis der damaligen Menschen wider, das wahre Wesen der Welt durchschauen und begreifen zu wollen.«
»Schön, und was bedeutet es?«, wollte Cranston wissen. »Konnten Sie das Rätsel entschlüsseln?«
»Ich denke, ja. Die Buchstaben stehen für das hebräische Wort emeth, welches ›Wahrheit‹ bedeutet – und Wahrheit war es auch, zu der mich Laydon ermahnte, als ich ihn befragte.«
»Unglaublich.« Sir Jeffrey schüttelte fassungslos den Kopf.
»Und was war das andere Ritual, das den Golem zum Leben erweckte?«, erkundigte sich Dr. Cranston. »Sie erwähnten zwei Dinge …«
»Das ist richtig«, stimmte Sarah zu. »Neben dem Siegel auf der Stirn war auch ein so genannter ›Schem‹ von Bedeutung.«
»Ein Schem?« Sir Jeffrey hob die Brauen.
»Ein Stück Papier mit dem Namen Gottes darauf«, erwiderte Sarah. »Es wurde unter die Zunge des Golem gelegt.«
»Wie bei Kamal!«, wiederholte Cranston, der erstmals Anzeichen persönlicher Anteilnahme zeigte.
»In der Tat, Doktor«, erwiderte Sarah ernst. »Allerdings nicht mit dem Namen des Allmächtigen darauf, sondern mit dem Emblem jener Menschen, die schon wiederholt meine Wege gekreuzt und die meinen
Weitere Kostenlose Bücher