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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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anhören, was Sie zu sagen haben. Wenn es Ihnen gelingt, meine Zweifel auszuräumen, werde ich alles mir Mögliche unternehmen, um Ihnen und Kamal zu helfen.«
    »Und wenn nicht?«
    »Werde ich Ihnen ehrlich sagen, was ich von der ganzen Sache halte. Was Sie dann tun oder nicht tun, ist Ihnen überlassen.«
    »Einverstanden«, stimmte Sarah zu. »Aber Sie sollten Platz nehmen. Die Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen habe, ist lang, und sie reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück.«
    »Wieso?«, erkundigte sich Sir Jeffrey, während der Doktor und er Sarahs Aufforderung nachkamen und sich zu ihr an den Lesetisch setzten. »Was ist damals geschehen?«
    »Aus dieser Zeit«, erklärte Sarah, »stammt das erste schriftliche Zeugnis über den Golem – das Wort stammt übrigens aus dem Hebräischen und bedeutet soviel wie ›unfertig‹ oder ›ungeformt‹. Bedeutsamerweise erfolgt diese erste schriftliche Erwähnung in einem Anhang zum ›Buch der Schöpfung‹, der der Kabbala zuzuschreiben ist.«
    »Der Kabbala?« Cranston machte aus seinem Unwissen abermals kein Hehl.
    »Die Kabbala ist eine jüdische Geheimwissenschaft, die aus Zahlen und Buchstaben göttliche Botschaften herauszufinden versucht, die in den heiligen Schriften enthalten sein sollen. Anders angewendet, bietet sie freilich auch die Möglichkeit, Nachrichten auf eine Weise zu verschlüsseln, deren Sinn sich nur dem Eingeweihten erschließt.«
    »Und weiter?«
    »In diesem frühen Text, der uns leider nur in Bruchstücken erhalten ist, wurde angeblich eine Methode beschrieben, wie lebloser Materie Leben eingehaucht werden kann.«
    »Die Genesis«, hauchte Sir Jeffrey.
    »So ist es«, bestätigte Sarah. »Die Möglichkeit, es dem Schöpfer gleich zu tun und über das Leben verfügen zu können, ist ein alter Menschheitstraum, den auch unsere Vorfahren geträumt haben. In der jüdischen Tradition findet er sich in Form der Golem-Sage wieder. Die Gabe, Leben verleihen zu können, galt als Privileg, das nur besonders weisen und gerechten Männern zuteil wurde, und auch nicht zum Selbstzweck, sondern um einem höheren Ziel zu dienen.
    Um das Jahr 1520«, fuhr Sarah in ihrem Bericht fort, wobei sie immer wieder in die Notizen blickte, die sie sich gemacht hatte, »wurde Judah Löw geboren. Im Prag der Habsburger wirkte er als Rabbiner, Philosoph und Gelehrter, und es wird erzählt, dass bisweilen sogar der Kaiser selbst bei ihm Rat suchte. Darüber hinaus war Löw jedoch auch in den Lehren der Kabbala bewandert, und wie es heißt, kannte er das darin enthaltene Geheimnis.«
    »Die Erschaffung des Golems«, folgerte Sir Jeffrey.
    »In der Tat. Nun muss man wissen, dass Prag zu jener Zeit das Zentrum jüdischen Geisteslebens in Europa gewesen ist. Noch im frühen Mittelalter gab es zwei Gemeinden, die schließlich zusammenwuchsen und die mit einer Mauer umgebene Judenstadt bildeten, eine eigenständige Siedlung, deren Bewohner von der übrigen Bevölkerung Prags durch die Jahrhunderte geschmäht und angefeindet wurden – bis Joseph II. gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Toleranzedikt erließ. Ihm zu Ehren wurde das Viertel daraufhin in ›Josefov‹ umbenannt – die Josephsstadt. Zu Zeiten Rabbi Löws jedoch sah sich die jüdische Gemeinde massiven Anfeindungen ausgesetzt – unter anderem warf man den Rabbinern vor, in den Synagogen grausame Blutrituale zu vollziehen, und wollte beim Kaiser einen Erlass gegen sie erwirken.«
    »Was ist dann geschehen?«, erkundigte sich Cranston, dessen Neugier offenbar geweckt war.
    »In seiner Not besann sich Rabbi Löw auf die alten Schriften und das geheime Wissen der Kabbala. Wie es heißt, soll er Beistand erfleht und den Auftrag erhalten haben, ein menschliches Abbild aus Ton zu formen, das den Prager Juden hilfreich zur Seite stehen und sie gegen alle Beschuldigungen verteidigen werde. Löw tat, wie ihm geheißen. Nachdem er sich durch einwöchiges Gebet auf seine Aufgabe vorbereitet hatte, ging er zum Ufer der Moldau und formte dort einen Menschen aus Lehm, dem er auf wundersame Weise Leben verlieh – die Geburtsstunde des ›Golems‹, wie er schon bald genannt werden sollte.«
    »Interessant«, erkannte der Doktor an.
    »Obwohl der Golem in der Lage war, sich zu bewegen und den Befehlen seines Herrn zu gehorchen, war er kein wirklicher Mensch – weder war er in der Lage zu sprechen, noch selbständig zu denken. Tagsüber hielt Löw ihn verborgen, des Nachts jedoch erwachte der Golem zum Leben und half, die

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