Am Ufer Des Styx
lebhafter Traum ihr hatte weismachen wollen, sondern fast eine halbe Stunde. Wäre Sir Jeffrey nicht gekommen, hätte ihr vermeintlich kurzer Schlummer vermutlich die ganze Nacht gedauert. Und jener unheimliche Schemen war nichts weiter gewesen als ein Nachtmahr, der sie im Schlaf ereilt hatte – wenn auch so wirklichkeitsnah, dass Sarah noch immer schauderte.
»Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen, liebe Freundin«, sagte Sir Jeffrey nicht ohne Vorwurf.
»Ein wenig komme ich mir auch so vor«, gab Sarah zu.
»Das bestätigt mich in meiner Ansicht, dass Sie sich zu viel zumuten. Sie haben seit zwei Tagen kaum geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Kamal hat keinen Nutzen davon, wenn Sie sich zugrunde richten.«
»Ich weiß, Sir Jeffrey. Ich weiß …«
»Haben Sie denn gefunden, wonach Sie suchten?«, ließ sich eine zweite Stimme vernehmen.
Erst jetzt bemerkte Sarah, dass Jeffrey Hull nicht allein gekommen war. Ein Mann, der wie er mit Gehrock und Zylinder bekleidet war, hatte schweigend im Hintergrund gewartet. Nun trat er in den Lichtschein der Lampe, ein undeutbares Lächeln im Gesicht.
»Tally-ho«, sagte er dazu.
»Dr. Cranston«, stellte Sarah verwundert fest. »Was führt Sie um diese späte Stunde hierher?«
»Um ehrlich zu sein, meine Neugier«, antwortete der Mediziner mit entwaffnender Offenheit.
»Ich habe Dr. Cranston vor dem Museum getroffen«, fügte Sir Jeffrey erklärend hinzu. »Er erkundigte sich nach Kamals Zustand, und ich erzählte ihm von Ihrer Begegnung mit Laydon und von Ihrer Vermutung, das Heilmittel betreffend.«
»Bemerkenswert, äußerst bemerkenswert«, kommentierte Cranston.
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Sarah, die jetzt wieder hellwach war. Jede Schläfrigkeit war aus ihren Augen verschwunden.
»Ich spreche davon, dass Sie eine halbe Nacht durchwachen, um den Hinweisen eines geistesgestörten Mannes nachzugehen. Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Ich hätte Ihnen helfen können.«
»Wobei?«
»Bei der Suche nach der Wahrheit.«
»Wahrheit.« Sarah lachte bitter auf.
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Laydon nur mit Ihnen spielen, dass die Sache mit dem Zeitungsartikel bloßer Zufall sein könnte? Etwas, das nur in Ihrem Kopf Sinn ergibt?«
»Durchaus«, räumte Sarah ein. »Aber vielleicht hat Sir Jeffrey vergessen, Ihnen zu sagen, dass Mortimer Laydon schon einmal einen Patienten von diesem rätselhaften Fieber geheilt hat.«
»So? Wann ist das gewesen?«
»Vor vielen Jahren.«
»Und da sind Sie sich wirklich sicher?«
»So sicher, wie ich nur sein kann«, entgegnete Sarah mit bedeutungsvollem Blick – mehr wollte sie darüber nicht sagen, und sie war Sir Jeffrey dankbar, dass er ihr Geheimnis nicht veruntreut hatte.
»Nun«, meinte Cranston, »das ändert sicher manches. Aber ich sehe noch immer nicht, was der Zeitungsartikel über diese Kreatur damit zu tun haben könnte.«
»Es ist ein weiterer Hinweis Laydons, dem ich nachgehe«, erklärte Sarah. »Er sagte etwas von Juden. Und davon, dass ich das Heilmittel dort finden würde, wo Leben aus der Leblosigkeit erwächst. Anfangs glaubte ich, er spielte damit auf die Bibel an, auf das Buch Genesis. Aber inzwischen bin ich zu der Ansicht gelangt, dass er einen real existierenden Ort gemeint hat.«
»Was bringt Sie darauf?«
»Wie gut kennen Sie Prag, Doktor?«, fragte Sarah dagegen. »Sind Sie schon einmal dort gewesen?«
»Bedauerlicherweise nicht.«
»In dem Zeitungsartikel, den Sir Jeffrey mir zeigte, ist vom Golem die Rede. Ist Ihnen der Name vertraut?«
»Leider muss ich schon wieder passen«, erwiderte Cranston mit verlegenem Lächeln. »Derlei Dinge fallen nicht in mein Ressort.«
»Um ehrlich zu sein, ging es mir noch vor einigen Stunden ähnlich wie Ihnen«, gab Sarah zu. »Ich wusste lediglich, dass der Golem eine jüdische Sagengestalt des Mittelalters ist.«
»Aber inzwischen«, vermutete Cranston mit Blick auf die unzähligen Bücher, die auf dem Tisch lagen, »hat sich dies geändert, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Sarah. »Laydons Anspielungen und Sir Jeffreys Zeitungsbericht haben mich dazu bewogen, genauere Nachforschungen bezüglich des Golems und seiner Herkunft anzustellen.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Sind Sie ernstlich daran interessiert?«, erkundigte sich Sarah. »Oder geht es Ihnen nur darum, mir ein Hirngespinst auszureden?«
»Lassen Sie uns einen Handel abschließen«, schlug Cranston vor. »Ich werde mir alles
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