Am Ufer (German Edition)
lieben. Aber mir schien das nichts als Rhetorik – was es war –, denn die Wahrheit lag darin, dass ich seit Neuestem mit Leonor ausging, und sie war es, die ich liebte, und durch sie lernte ich mich selbst zu lieben. Ich lernte meinen Körper mit jeder Parzelle des ihren kennen,und mein Körper gewann an Wert, weil er Teil des ihren war, dessen Ergänzung, ich dachte, wir teilten uns zwei Körper, die sich nicht trennen und auch nicht für sich allein leben konnten. Wir trafen uns, wann immer ich eine freie Minute hatte. Ich lief zu ihr, sobald mein Arbeitstag in der Werkstatt zu Ende war. Mein Vater: Darf man wissen, wohin so eilig? Wir suchten Zuflucht in den letzten Reihen des Kinos in Misent (wir gingen nach Beginn der Vorstellung hinein, damit uns in der Dunkelheit keiner erkannte), wir vögelten am Strand hinter den Dünen, mieteten Zimmer in den Gasthäusern, in denen sich Seeleute und Nutten trafen. Ich nahm sie mit ins Sumpfgelände, und ihr Körper war der einzige, der mir nicht das Gefühl gab, dem Sumpf die Reinheit zu nehmen. Wunderschön, ihr schlickbedeckter Leib, der nach jener Fäulnis roch, auf der wir uns gewälzt hatten. Wir wuschen uns in der Nähe der Quelle, wo das Wasser sauberer war. Erregend, diesen Boden zu betreten, der schlüpfrig war wie die Haut eines Reptils, die Berührung mit den Pflanzen, die im Wasser trieben und zart streichelnd unsere Haut streiften, die grünen Fasern, die im Wasser schwebten und an der weißen Haut kleben blieben, ihr das Aussehen eines verletzten Leibs gaben, der nach Zärtlichkeit fleht, der leichte Geruch nach Schlamm und Fäulnis. Die Gesänge auf die Werkbank und die Säge, die mein Onkel anzustimmen sich bemühte, erschienen mir so unnütz wie die düsteren Klagen meines Vaters. Das frische Wasser der Lüge, so leicht zu trinken. Die Wahrheit war jenes Fleisch in meinen Händen, der Speichel, die Zähne, die sie stöhnend in meinen Hals schlug, der feuchte, klebrige Leib, den ich im Schlamm umarmte. Ich wollte nicht in der Schreinerei bleiben, die Wahrheit war, ich wusste nicht, was ich wollte.
Rückseite des Kalenders von 1960, den Estebans Vater ganz hinten im Schrank in einer der vielen Mappen mit Lieferscheinen verwahrt hat; der Schrank steht in der als Büro bezeichneten verglasten Empore, zu der man über eine Schiebeleiter gelangt. Vom Kalenderfehlt nur das erste Blatt, das Deckblatt, aber man kann davon ausgehen, dass es sich um den des Jahres 1960 handelt; auf den einzelnen Monatsblättern ist das Jahr nicht verzeichnet, doch auf der letzten Seite stehen unten ganz klein gedruckt Name und Anschrift eines grafischen Betriebs und darunter das Datum, an dem der Kalender offensichtlich gedruckt worden ist. September 1959. Seitdem diese Notizen geschrieben worden sind, hat keiner sie in Augenschein genommen, nicht einmal Esteban, der sich nicht darangemacht hat, den Berg von alten Papieren zu durchforsten, die praktisch den gesamten Schrank füllen, der etwa fünfeinhalb Meter breit und drei Meter hoch ist und dessen Abteile jeweils in acht Fächer aufgeteilt sind. Die zwölf Blätter zeigen Bilder von Frauen in regionalen Trachten, die vor bekannten Sehenswürdigkeiten ihrer Region posieren. Die Bildunterschrift auf dem Januarblatt lautet: Kastilische Frau neben der Stadtmauer von Ávila; zum Februar heißt es: Navarresin aus Valle de Ansó; zum März: Katalanische Pubilla vor ihrem Hof; April: Sevillanerin am Fuß des Goldenen Turms. Mai: Frau aus Valencia in typischer Tracht. Juni: Fischerinnen aus Coruña. Juli: Frau aus Coria (Cáceres). August: Eine Dulcinea bei den Mühlen von Campo de Criptana. September: Baskische Gastwirtin. Oktober: Frau aus Zaragoza, eingekleidet für die Fiesta del Pilar. November: Frau aus Teneriffa im Schatten des tausendjährigen Drachenbaums. Dezember: Frau von den Balearen. Die handschriftlichen Texte befinden sich auf den Rückseiten der Kalenderblätter von Juni bis Oktober (jeweils inklusive). Sie sind mit Bleistift und in sehr kleiner Schrift geschrieben, einige Passagen sind vollkommen verwischt und unlesbar, werden also im Folgenden nicht wiedergegeben.
Ich bin fünfzehn, als ich plötzlich meinen Vater höre. Er ist auf seinem ersten Fronturlaub, ich bewundere und befühle seine Uniform, achte nicht auf die schlechte Stoffqualität und darauf, dass sie für jemanden geschneidert scheint, der zehn Zentimeter kleiner und zwanzig Kiloschwerer ist. Ich weiß noch nicht, dass ich bald die gleiche Uniform
Weitere Kostenlose Bücher