Am Ufer (German Edition)
tragen werde. Er hat es eilig, mir das zu vermitteln, was er weiß. Er kümmert sich um meine Bildung, um das, was jedes Leben umgibt und ihm einen gewissen Sinn gibt, das, was dich vom Schicksal befreit und von der verdammten göttlichen Vorsehung und dich zu einem Menschen macht, der selbst entscheiden kann: Du bist als Einziger dafür verantwortlich, mit dem Material, das die Natur dir mitgegeben hat, das Beste aus dir zu machen, zu mehr bist du nicht verpflichtet, aber auch nicht zu weniger: diesen Satz trichtert er mir förmlich ein. Er denkt wohl, dass ihm, der wieder an die Front muss, vielleicht nur noch wenig Zeit bleibt, mir das beizubringen, was er weiß. Der Krieg macht, dass alles schnell vorbeigeht und niemand langfristige Pläne schmiedet. Aber ich kann auch zehn Jahre zurückgehen und entdecke da an ihm den gleichen pädagogischen Eros. Ich bin acht, er hält mich an der Hand und erzählt mir von den Orten, von denen das am Hafen von Valencia gestapelte Holz herkommt: von den Wäldern im Kongo, aus dem amazonischen Urwald, aus Skandinavien, Kanada oder den USA, Landschaften, die ich später in Filmen und in der Wochenschau sah. Das Kind glaubt, er denkt sich das aus. Ich weiß nicht, ob damals Holz von so vielen fernen Orten nach Valencia kam. Vielleicht bin aber auch ich es, der die Erinnerung verfälscht und ihm Worte in den Mund legt, die er nicht ausgesprochen hat; aber ich glaube es nicht. Ich kann mir den Nachmittag am Hafen von Valencia so genau ver gegen wärtigen, als sei das alles heute passiert. Warum waren wir nach Valencia gefahren? Zum ersten Mal sehe ich eine große Stadt. Im Krieg war ich dann in Madrid und Zaragoza, und ein paar Jahre zuvor mit der Schule für Kunst und Handwerk in Salamanca. Danach habe ich keine weiteren Großstädte mehr kennengelernt, da war das Gefängnis und danach, bis heute: Olba. Ich glaube, wir wollten eine Schwester meiner Großmutter besuchen, die war krank, und meine Großmutter hatte gesagt, sie wolle sie ein letztes Mal sehen: ein Festtag für die Fami lie. Wir aßen in ihrer kleinen Wohnung, die nach Medikamenten roch, nach Alkohol und Jod, nach Pillendosen, die in Kastanienholzschub laden aufbewahrtwurden, nach Katzenpisse. Eine Altenwohnung. Am Nachmittag fährt die Straßenbahn uns die lange Allee zum Hafen hin unter, und von dort aus gehen wir Richtung Landungsbrücken für die Hafenrundfahrt, die an den Becken entlang bis zur Hafenausfahrt führt. Die ganze Fahrt in dem kleinen Schiffchen spüre ich die Hand meines Vaters auf meinem Kopf, die mich leicht lenkt. Er zeigt mir die Kräne, an denen Bündel von Stämmen hängen. Zeigt mir die Holzstapel vom Meer aus. Die Stämme erscheinen mir riesig. Als wir von Bord gehen, bleiben die anderen am Strand: die Großmutter und ihre Schwester, meine Mutter, die Frau eines Vetters meines Vaters, der in Valencia wohnt und an jenem Nachmittag mit seinen zwei Söhnen gekommen ist, Kinder, die ich wohl nie wieder gesehen habe, und drei Männer, die mir unbekannt sind, wahrscheinlich Vettern meines Vaters. Wir sind am Strand Las Arenas, in der Nähe des Strandbads mit den Kabinen, in denen sich die vornehmen Leute umziehen. Die Erinnerung an meinen Vater, an jenen glücklichen Tag, den Tag, an dem ich das Geschenk bekomme, in einen Zug zu steigen und eine große Stadt zu sehen, belebte Straßen, elegante Frauen, Automobile; ich steige in eine Straßenbahn und in das Schiffchen am Hafen, und dann ist auch noch er da, führt mich an der Hand oder legt mir seine Hand auf den Kopf, um meine Aufmerksamkeit zu lenken, und seine Gegenwart ist in der Erinnerung Teil des Geschenks. Auf den gemieteten Liegestühlen sitzen die beiden alten Frauen, die sich nicht bücken können, die anderen liegen oder sitzen im Sand, meine Mutter breitet vorsichtig ein Handtuch aus, bevor sie sich niederlässt, damit der Rock nicht schmutzig wird, den sie zwischen den Beinen festzieht, damit der Wind ihn nicht hebt, Ramón (wie alt ist er, zwei oder drei Jahre?) spielt mit Sand, rennt barfuß durch die Schaumbordüre, die von den langsam auslaufenden Wellen hinterlassen wird. Sie trinken Erfrischungen, die Männer Bier oder Anis mit Sprudel, die Frauen und Kinder Mandelmilch, und er holt mich aus der Gruppe, nur mich, nicht meine Vettern –, ich habe mit dem Jungen noch etwas zu regeln, rechtfertigt er die Eska pade –, nimmt mich mit zu den Kais: Die Kräne lassen die großen weißen,goldgelben, rötlichen oder dunkelbraunen Stämme
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