Am Ufer (German Edition)
mir nichts erzählst, sorge ich mich erst recht, lass mich raten, du brauchst mir nichts erzählen, mal sehen, ob ich es treffe, du musst bloß den Kopf senken, wenn es stimmt. Wilson hat wieder das Geld ausgegeben, ist es das? Du senkst nicht den Kopf? Etwas Schlimmeres? Hat er dich geschlagen? Das darfst du dir nicht gefallen lassen, du weißt ja, wenn du Anzeige erstattest, bekommst du Schutz vom spanischen Staat und automatisch die Staatsbürgerschaft, ich hoffe, er hat nicht die Hand gegen dich erhoben. Ist er abgehauen? Verzeih, wenn ich das so sage, aber wenn er abgehauen wäre oder dich geschlagen hätte,dann würdest du zunächst leiden, schließlich ist es dein Mann, der Vater deiner Kinder, den du liebst oder geliebt hast, aber eigentlich hätte er dir einen Gefallen getan, denn für dich ist dieser Mann doch ein Klotz am Bein. Das sage nicht ich, das erzählst du. Du schüttelst den Kopf. Er hat dich weder geschlagen, noch hat er sich abgesetzt. Na also, alles andere lässt sich richten. Ich sag dir doch immer, weder das Gute noch das Schlechte kommt, um ewig zu bleiben, es hält sich eine Weile bei uns auf, und dann zieht es weiter, sucht andere Leute heim, in Häusern, die nicht die unseren sind. Das Glück ist nicht von Dauer. Komm schon, zieh nicht dein Kinn weg, lass mich dein Haar streicheln, mein Kindchen, arme Liliana. Was ist nur? Du schüttelst wieder den Kopf? Ich will nicht, will Ihnen nicht wieder das Gleiche erzählen. Ich schäme mich. Aber zwischen uns beiden, wer wird sich da schämen, zwischen Vater und Tochter? Komm her, lass dich umarmen, ja, so, leg deinen Kopf auf meine Brust, du hast weiches Haar, stark und weich. Auch du bist stark und weich, du hast die Fähigkeit zu leiden, das Leben hat dich gegerbt. Sei unverzagt, Kindchen. Weine in aller Ruhe, weine die Traurigkeit heraus. Weinen erleichtert, entspannt. Wart mal, ich hol das Taschentuch heraus und wisch dir die Tränen ab, so ist es besser. Ich schäme mich einfach, Ihnen immer mit der gleichen Geschichte zu kommen, jeden Monat wieder, Sie haben doch gar keine Verpflichtung mir gegenüber, ich verstehe sofort, wenn sie das irgendwann satthaben und sagen, dass ich mir mein Leben einrichten muss, dass das mein Problem ist, diese ewige Geschichte, dass nichts im Kühlschrank ist, dass ich nichts habe, was ich den Kinder kochen kann, und nichts, um die Miete für die Wohnung zu zahlen. Irgend wann langweilt das, ich verstehe, dass das am Ende langweilt. Ich habe große Angst, dass sie mich eines Tages satthaben. Wie kannst du das nur sagen, dich satthaben, man hat eine Tochter nicht satt, so eine Zuneigung, die kann man nicht nach Belieben an- und ausknipsen, die gehört dir, komm, wein ruhig, dein Gesicht an meiner Brust. Wie viel brauchst du diesmal?
Warum bin ich in dieser Nacht nicht in meinem Bett? Was wandle ich durch das Haus, spärlich vom Mondlicht beleuchtet, wenn ich mich an den Fenstern des Esszimmers vorbeibewege, und in völliger Dunkelheit, wenn ich den Flur entlanggehe, vorbei an den Zimmertüren, hinter denen meine Geschwister schlafen? Vielleicht bin ich aufgewacht, habe das Bett, in dem normalerweise der Onkel, mit dem ich das Schlafzimmer teile, schläft, leer gesehen und bin hin ausgegangen, ihn zu suchen. Ich bin fünf Jahre alt. Rechts vom Flur ist die Treppe, die hinunter zur Werkstatt führt. Um den Riegel an der Tür zu erreichen, muss ich mich auf die Zehenspitzen stellen. Es gelingt mir, ihn aufzuschieben. Am Ende der Treppe, unter der Tür zur Werkstatt, ist ein Lichtstreifen, auf den ich mich zubewege, voller Angst zu fallen, ich taste nach der Wand, suche vorsichtig jede Stufe, und als mir dort unten gelingt, die Tür zu öffnen, steht da mein Onkel, den Kopf gebeugt, blickt er auf etwas, das ich nicht erkennen kann, doch je näher ich komme, sehe ich, dass er einen kleinen Holzkarren in den Händen hält, Aufregung erfüllt mich und ich laufe, so schnell es geht, die Strecke, die uns trennt, er hebt überrascht den Kopf und ich greife den Karren, ziehe daran, um ihn an mich zu reißen, aber er hält ihn gut fest und schaut mich belustigt an, die Räder drehen sich, er gibt ihnen mit dem Zeigefinger Schwung, ich lockere den Druck meiner Hände und entdecke, dass auf der Bank rechts ein dünnes Brett liegt, das in Wirklichkeit die Silhouette eines Pferdes ist. Die erste Bewegung meines Onkels, als er meiner ansichtig wurde, war der Versuch, das Pferd unter einem Tuch zu verstecken, das er neben sich
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