Am Ufer (German Edition)
wie die anderen entwerten damit das Einzige, was wertvoll ist, das Leben selbst, den gegenwärtigen Augenblick: das sagte mein Onkel Ramón, nachdem er als Witwer zurückgeblieben war. Er warf Revolutionäre und Priester in einen Topf, er hatte die Fähigkeit verloren zu unterscheiden, zu wählen, alles war ein einziger klebriger, bösartiger Schleim, die ganze Welt; so dachte er, und dennoch wurde er nicht unleidlich und bitter wie mein Vater. Seine Hoffnungslosigkeit war ausschließlich für den persönlichen Gebrauch. Der Spruch, dass wir alle am Ende des Weges allein und mit leichtem Gepäck sterben werden, erinnert an die Geschichte mit dem Fuchs und den Trauben. Es heißt, bewusst darauf zu verzichten, die Trauben zu pflücken, weil sie zu hoch für uns hängen. Du sagst dir, wozu das pflücken, was heute grün ist, aber schon in wenigen Tagen faulig: du verzichtest auf den Genuss zu besitzen, die Lust des Augenblicks, wozu will ich etwas haben, wenn der Tod mir doch alles nimmt. Aber die kalten Shakes, die du an drückenden Augustnachmittagen aus dem Eisschrank holst, und die Entrecotes, die du auf den Grill legst, wenn du im Winter Freunde eingeladen hast, oder die Klimaanlage, die dich erfrischt, während ich bei der Arbeit in der stickigenWerkstatt die Nerven verliere, sag mir nicht, dass solche Dinge nicht wichtig sind, auch wenn sie nur von kurzer Dauer sind, wir wissen ja, wie lange ein Getränk in den Händen kalt bleibt, und du sagst, sie sind nicht wichtig? Aber ja doch! Der Maurer, der unter der Augustsonne auf einem Dach arbeitet, derjenige, der bei vierzig Grad Spritzbeton für ein Schwimmbecken verarbeitet, oder ich selbst, schwitzend über eine Säge gebeugt, weil das Budget nie gereicht hat, eine Kühlung in der Werkstatt zu installieren, dieweil du, Francisco, unter der Aircondition sitzt oder in der frischen Meeresbrise in einem Liegestuhl auf dem Segelschiff ruhst, das Glas mit dem Single Malt in der Hand: du kannst mir nicht sagen, dass das aufs Gleiche herauskommt, alles ist eitel, alles vergänglich, sagtest du, als du noch Christ warst, nervöse Larve eines Arbeiterpriesters. Das ist eine Lüge, du weißt es inzwischen, weißt auch, dass nicht einmal die Priester daran glauben, obwohl bei einigen der Glaube den gesunden Menschenverstand außer Kraft setzt. Dir hat der Glaube nicht die Reaktionsfähigkeit genommen. Du bist aus dem Priesterseminar geflohen. Und zwar Knall auf Fall. Du hast bemerkt, dass die Katholiken sich widersprechen: Wenn sie davon überzeugt sind, dass alles wieder zu Staub wird, warum bauen sie dann diese Kirchen in Rom, die aus Marmor, Marmor und noch mal Marmor sind. Aus Marmor der Boden, die Säulen, die Fassaden. Dazu die Mosaike, die Kassettendecken, und die Freskenmalerei, die Vergoldungen; die Altäre, aus Gold und Marmorgestein: Travertin, Carrara, Paros; Onyx; roter, rosa, grüner Marmor, Serpentinstein; Lapislazuliblau und Elfenbeinweiß, und noch mehr Gold, und Zeder und Mahagoni, und du erzählst mir, dass alles wieder zu Staub wird, nachdem du den Sechser auf das Marmortischchen geknallt hast, der das Dominospiel beendet, und wir allein am Tresen zurückbleiben, und du mir von deiner Enttäuschung, deinem Unglück erzählst, dem Freund, dem man seinen Kummer offenbart. Dass wir Staub sind und wieder zu Staub werden, aber sicher, doch alles zur gegebenen Zeit, wir werden wieder zu Staub,aber du fürchtest, dass der Tod dir das nimmt, was Materie ist, ach, Francisco, dass der Sensenmann dich nicht mehr auf deine Jacht lässt an einem Tag wie heute, das Meer so glatt und ungeheuer blau, die Luft nur vom kristallinen Atem des Mistral bewegt; oder dich daran hindert, noch ein gebeiztes Rebhuhn zu speisen, garniert mit karamellisierten Zwiebelchen und Knoblauchzehen und den Kügelchen vom schwarzen Pfeffer und dem Lorbeerblatt; für mich hingegen, in meinem sommerlich glühenden und winterlich feuchten Schuppen, zieht sich das Warten auf den Tod ungebührlich hin, und ich rufe nach ihm, um endlich ausruhen zu können. So musst du denken, Francisco, wenn wir wahrhafte Freunde sein sollen, wie früher einmal, wahrhaftig denken und nicht mit dieser Heuchelei: Füchschen, schau mal her, siehst du nicht, wie ich die Träubchen verspeise? Ich. Ich esse sie: Schau, wie die Kerne zwischen meinen Zähnen knacken, wie der Saft, süß, so süß aus den Mundwinkeln trieft, wie ich kaue und sauge und genieße. Muskatellertrauben. Die Lust am Begehren und die Lust am Akt.
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