Am Ufer (German Edition)
wertvoll sind. Sie treten in die Pedale, über enge Wege voller Kurven und Steigungen, eine Prüfung für ihre alten Herzen, einige fahren im Rudel über die gekrümmten Landstraßen des Bezirks und beanspruchen auch noch die gegenseitige Fahrbahn. Andere radeln in Einsamkeit. Es greift einem ans Herz, wenn man einen dieser einsamen Alten angestrengt an einer der Steigungen in die Pedale treten sieht. Der Landstrich ist sehr hügelig. Hinter der Ebene besetzen die Berge den Horizont, bis hinab zum Meer, wo sie schroffe Steilküsten bilden. Die Ebene verbreitert sich nur Richtung Norden, wo die Obst- und Gemüsepflanzungen an das Sumpfgelände und die Sandstrände grenzen. Es ist unangenehm, sie über den Lenker gekrümmt zu sehen, schwitzend, hechelnd; schmale Vogelschenkel, gezwängt in enge farbige Trikots, weiche Hintern, die sichfladig über den Sitz ausbreiten, oder fleischlose, die sich eine Handbreit darüber erheben, wie knochige Vogelbrüste. Seit der Tourismus die Küste heimgesucht hat, fühle ich mich nicht mehr wohl am Meer, all diese Restaurants, Strandcafés, Imbissstände, die Gartenmauern der Apartmenthäusern, bis zu denen im Winter die Fluten reichen und vor denen im Frühling tonnenweise Sand ausgekippt wird: ein Ort, dem Gewalt angetan wurde, schmutzig, an dem die Leute, von wer weiß woher gekommen, pissen, scheißen oder ejakulieren, wo die Öltanker, die man ständig am Horizont auf den Hafen von Valencia zusteuern sieht, ihre Kieljauche, die Aborte und Laderückstände ablassen, dazu die Kreuzfahrtschiffe, vollgeladen mit Rentnern, die einen falschen Luxus, eher eine Vorspiegelung von Luxus, genießen, die Stationen kann man den Zeitungsanzeigen entnehmen: Tunis, Athen, Malta, Istanbul, Amalfiküste, Rom-Civitavecchia, Barcelona, und stets wird Schmutzwasser zurückgelassen. Das Meer ist eine große Lunge salzigen Wassers, das ständig Sauerstoff aufnimmt, und der joddurchsetzte Wind, den dieses Atmungsorgan ausstößt, reinigt uns Menschen und zugleich das Organ selbst, so stellen wir uns das Meer vor, ein stets sauberer Wasserkörper, da er sich bei jedem Unwetter reinwäscht, aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass er von diesem eklig klebrigen Zeug durchsetzt ist, das nach einer Vergewaltigung im Körper zurückbleibt, der Zement der Bauten, die den Strand säumen, der Abfall, der sich an den Wellenbrechern sammelt, die man aufgetürmt hat, damit bei Sturm nicht der Sand weggeschwemmt wird: an der Küste wirkt alles wie ein abgegessenes Bankett, und das stört mich; außer dem ist man dort nie sicher vor neugierigen fremden Blicken, nein. Ich sage, dass ich einsam am Strand spaziere, aber es gibt keine wirkliche Einsamkeit. Auf der ebenen Sandfläche stehst du wie auf dem Präsentierteller, schon von Weitem kann man die Bewegungen der Menschenfigürchen beobachten, ihr Kommen und Gehen, man selbst bietet sich den Blicken der anderen Spaziergänger oder jener Neugierigen dar, die aus den Fenstern der Hundertenvon Apartmenthäuser gucken. Eines Tages wird über all das hier ein Ascheregen fallen, er wird es langsam mit einer Schicht zudecken, deren Eigenschaften wir noch nicht entziffern können. Der sumpfige Marjal, in seinem vernachlässigten Für-sich-Sein, bringt mich wieder zu mir, erinnert mich an die Hütten, die wir uns als Kinder bauten, um uns vor den Blicken der Erwachsenen zu schützen, das waren Orte fern jeder Überwachung, in denen wir unsere eigenen Gesetze aufstellten, mehr oder weniger Verbotenes spielten unter der Decke des Teetischs, unter dem Bett, im großen Kleiderschrank. Im Marjal kannst du dir deine eigene Welt außerhalb der Welt bauen. Niemand läuft oder radelt auf den matschigen, löchrigen Pfaden, die faulig nach dem stehenden Wasser riechen, nach sich zersetzenden Pflanzen und Tierkadavern: eine Schlange, ein Vogel, eine Ratte, ein Hund, ein Wildschwein; heutzutage werfen die Bauern nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, die Kadaver ihrer Haustiere in diesen Dschungel. Die Bauernhäuser, die nicht zerfallen sind, wurden renoviert, und man benutzt sie als Wochenendhäuschen, Ställe mit Vieh gibt es kaum noch. Die Sitten haben sich geändert; es herrscht auch eine andere Sensibilität oder Wachsamkeit, mehr bürgerschaftliche Kooperation, wie man heutzutage die Praxis der Denunziation nennt, die sich immer mehr ausbreitet. Mit Eifer ist die Bevölkerung dabei, jedweden anzuzeigen, der einen auch noch so kleinen Verstoß begeht: Keiner traut sich, den
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