Am Ufer (German Edition)
Wenn du ein Hungerleider bist, erlaubst du dir nicht mal das Begehren, weil es dir angesichts all dessen, an dem es dir mangelt, nur Kummer bereitet, während es für mich – der ich im Überfluss schwimme – die Tür ist, durch die ich ins wahre Leben eintrete: Deshalb pflege ich mein Begehren, nähre es, schiebe den Augenblick der Erfüllung hinaus, es ist die großzügige Eingangshalle, die der reinen Lust vorgelagert ist, ein Vorratsraum, der von jenem für das Lebensnotwendige getrennt ist. Ich verlängere den Aufenthalt, so wie ich beim Vögeln den Höhepunkt hinauszögere, ich lasse das Vorspiel mit Bedacht andauern, damit die Explosion noch intensiver wird. Ich genieße schon das Streben nach Besitz, und ich genieße vor allem die Erfüllung dessen, was das Streben ankündigt: wenn das Verlangen explodiert und das Bächlein hervorquillt, uff, Junge, Junge, was für eine Lust, der kleine Tod,
la petite mort
, der Tod bringt dich einen Augenblick in seine Gewalt und stellt dich dann wieder mit beiden Beinen auf den Boden; so nennen es, glaube ich, die Franzosen,
petite mort
, das habeich irgendwo gehört oder gelesen. Wenn die Reise zu Ende geht, werden wir natürlich beide sterben, klar, jeder an seinem Tag und zu seiner Stunde, aber du, der Bedürftige, wirst gehen, ohne gelebt zu haben, und ich, nachdem ich mein Leben gelebt habe: Das ist es, was uns unterscheidet; zu Staub werden wir beide, aber ich werde – wie im Lied – verliebter Staub sein: gut gegessen, gut getrunken und gut gevögelt haben, Staub, ein Staub, der reich an Nährstoffen ist, eine opulente Konzentration der Reste vom Besten, was der Mensch hervorgebracht hat; und wer sagt denn, dass der Staub kein Gedächtnis hat, ein Gedächtnis, das hartnäckig über der Zeit schwebt, ewiglich, und uns den Trost der Gewissheit spendet, allen Saft aus dem Leben gepresst zu haben, oder aber unglückselig gewesen zu sein und nun eine Ewigkeit lang den Schmerz zu tragen, dass uns das Leben entflogen ist, uns keine Gelegenheit geboten hat, es auch zu genießen. So solltest du mit mir sprechen, Francisco, mir zeigen, dass ich nur Mist gebaut habe, und je schneller der Wind kommt und ihn davonträgt, desto besser für alle, und das sage ich dir heute, da ich mich übers Ufer lehne und den Weiher betrachte, den das Blau des Himmels verschönert, als wollte mich die Natur verführen, damit sie noch ein bisschen länger mit mir herumspielen kann; dennoch kann ich dir, in Betrachtung dieser Schönheit, versichern, dass ich es eilig habe zu wissen, was man fühlt, wenn man die Schwelle überquert und eintritt in das Reich des Schattens. Um dort zu bleiben.
Oben von der Düne aus erkenne ich zwischen den fernen Bauten Fragmente des Strands. Seit Beginn der Krise ist es vorbei mit der Hektik der Kräne, Betonmischmaschinen, Ausleger, die Landschaft ist gereinigt. Es gibt halb fertige, stillgelegte Bauten, doch keine, an denen noch gebaut würde. Nein, die gibt es nicht mehr. Im Winter kann man in aller Ruhe am Strand spazieren, fast in Einsamkeit die Füße in den Sand senken, die Einsamkeit des Strandes ist allerdings eine bevölkerte Einsamkeit. Es gibt Fischer mit Angelrute, englischeoder deutsche Rentner, die joggen oder am Rand des Wassers walken und im Takt ihres Marsches energische Armbewegungen machen, das soll martialisch aussehen, wirkt aber grotesk: schnelle Schritte, Ellbogen an den Körper gepresst, Unterarme vorgestreckt; oder aber sie rudern kräftig mit den Armen, fahren sie vor oder hinter dem Körper kraftvoll auseinander; wie ich sagte, eher etwas mitleiderregend: alte Leute, die sich ohne jede Anmut bewegen, mechanisch, wie Automaten oder wie Demenzkranke in ihrem sinnlosen Gestrampel gegen den Tod. Mich stößt die Manie der Alten ab, sich durch dieses Hin-und-Her-Laufen in Form zu halten oder durchs Radeln, sie fahren auf dem Zementstreifen, der am Strand entlangführt, und angeblich die Meerespromenade von Misent ist (ja, Meerespromenade nennen die Stadträte den Streifen, wenn sie in Radiointerviews davon sprechen). Die meisten dieser winterlichen Ath leten sind angestrengte alte Leute, bei denen man denkt, wie viel besser sie doch daheim im Sessel vor dem Fernseher sitzen würden, um ihr Leben zu rekapitulieren, bevor das Licht ausgeht, sich dergestalt auf die große Begegnung vorbereitend, stattdessen aber gefährden sie ihr Leben, das ja eh schon verloren, fast immer vergeudet ist; und die Leben der anderen, von denen viele noch
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