Am Ufer (German Edition)
Fetisch-Tiere. Und auf den Rückseiten des Kalenders, der im Holzlager hängt, notierst du seit der Rückkehr aus dem Gefängnis mit Bleistift die Daten, die du für entscheidend hältst auf dem Weg zur Wiederherstellung solcher Verhältnisse, bei denen du nicht mehr als halbierter (wie seit der Entscheidung, dich zu stellen), sondern erneut als ganzer Kerl auftreten könntest. Du hast diese Kalenderblätter mit den Notizen zwischen deinen Papieren aufbewahrt, so wie ich mir vorstelle, dass du für diese kommende Normalität, für den Tag, an dem die Zeit der Finsternis enden würde (jene Jahre, die uns in ein Nichts verwandelt hatten), auch deine Gattenliebe, die Gefühle, die väterliche Zuwendung, das Verständnis glaubtest aufsparen zu können, ebenso wie die Solidarität, die du nie praktiziert hast, oder deren Ausdruck ich nicht habe wahrnehmen können (deine Solidarität war eine künftige, die nie zum Zuge kam, ein Vogel ohne Ast, auf dem er sich hätte niederlassen und sein Nest bauen können). Vor geraumer Zeit habe ich einige dieser Kalenderblätter gefunden. Du hattest sie ganz unten in einer der im Büro gestapelten Kisten aufbewahrt. Botschaften aus der Vergangenheit, Futterplatz künftiger Zuneigung, Vorzeichen des Fests der Solidarität. Auf dem Blatt vom August 1944, gerade ein paar Monate nachdem du die provisorische Freiheit erlangt hattest, schriebst du:
Warschauer Aufstand; am 25ten nimmt die Division Leclerc, kommandiert von unserem Landsmann Amado Granell – einem R aus Burriana
(R meinte zweifellos Republikaner) –
Paris ein und die spanische T
(T, klar, das ist die Trikolore)
weht auf dem Triumphbogen.
Und mit Rotstift geschrieben, breiter Strich und Großbuchstaben, zornig, würde man meinen: MAN GEWINNT DRAUSSEN, WAS MAN DRINNEN VERLIERT . Vier Jahrezuvor war ich geboren worden (du musst mich in jenen letzten Tagen des Bürgerkriegs gezeugt haben, als du dir noch nicht sicher warst, ob du dich stellen solltest), ich weiß, du saßt im Gefängnis und konntest meine Geburt nicht in einen deiner Kalender eintragen, aber Juan und Carmen sind später geboren, 1944 und 1947, und sie waren dir keinen Eintrag wert, ihre Geburt schien dir offensichtlich nichts anzukündigen, du sahst in ihnen keine Hoffnung, also auch keine Hoffnung für sie, so wie du wohl auch in mir keine Hoffnung gesehen hast. Auf die Rückseite eines der Kalenderblätter vom darauf folgenden Jahr stand:
13. Februar, die Russen nehmen Budapest ein
; auf einem anderen:
13. April, sowjetische Truppen besetzen Wien
; auf dem nächsten: 2. Mai, DIE NAZIS KAPITULIEREN IN BERLIN VOR DEN SOWJETS . 1949 dann:
1. Oktober, Mao Tse Tung
(damals schrieb man ihn so)
ruft die Volksrepublik China aus.
1959:
8. Januar, Fidel Castro zieht in Havanna ein. Auf welcher Seite steht er? Auf ihrer oder auf unserer? Kommt Zeit, kommt Rat.
Du hattest angefügt:
Die Zeit, die verdammte Zeit, wie schnell sie doch vergeht, zwanzig Jahre ist das alles her und mir ist, als sei es gestern gewesen; und wie langsam sie vergeht, jeder Tag wird mir zu einem Jahrhundert. Batista zieht ab
(nichts Abwertendes; du schreibst nicht der Scheißbatista, nicht einmal Diktator Batista: Du musst vorsichtig sein mit dem, was du schreibst, diese Papiere bergen ein Risiko in sich, sie könnten in falsche Hände fallen und offenbaren, dass der Virus nicht tot ist, sondern nur schläft; mich wundert, dass du es wagst, die Pronomina wir und sie, unsere und ihre zu verwenden, die damals eine eindeutige und gefährliche Bedeutung hatten). 1968:
Russische Panzer besetzen Prag. Was ist da los????? Ich verstehe das nicht. Ich könnte heulen.
Deine Schrift auf der Rückseite der Kalenderblätter mit den kolorierten Landschaften, Gemälden von Velázquez und Murillo, spanischen Kathedralen oder Soubretten, Fußballspielern oder Toreros. Geheime, sterile Notizen, dazu verdammt, an der Wand klebend vor sich hin zu modern, ich kann mir allerdings auch deine klammheimliche Freude vorstellen, weil das,was im kleinen Büro zu sehen war – die harmlose Trivialität jener Drucke –, deinen Stolz verbarg: Das Übel schlief nicht einmal, es arbeitete heimlich still und leise, aber unermüdlich. Der harte Kern war unbeschädigt, weder die Jahre im Gefängnis noch das Vakuum, in das dich später die Nachbarn bannten, hatten ihn zu schmelzen vermocht. Der alte Maulwurf grub in den Nächten, das glaubte er zumindest, denn in Wahrheit veränderten oder nährten diese Blätter nichts, außer
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