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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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die ihrer verlustig gegangen sind, rückimplantieren, handelt man denn schnell genug, und wenn nicht, kann man sie rekonstruieren, das macht Dr. Cavadas aus Valencia, aber du kannst das, was du verloren hast, nicht zurückgewinnen, und wie sollte man es wieder aufbauen, nach so vielenJahren ist es längst verwest. Aber ich werde dich von den übernommenen Verpflichtungen befreien, jenen, die dich daran gehindert haben, ein ganzer Mann zu sein: uns zu ernähren, zu kleiden, zu erziehen, das Spinnennetz, in dem deine Biografie kleben blieb, aber denk jetzt nicht dran, wozu auch, es ist zu spät. Ich fürchte, wir haben eh keine Zeit, irgend etwas zu reparieren, wie sehr wir es auch versuchen. Nimm und trink, sage ich und reiche ihm das Glas lauwarme Milch (Vorsicht, verbrenn dich nicht), er greift es fest mit beiden Händen und führt es zum Mund, er grapscht nach dem Päckchen mit den Keksen und schlingt sie in sich hinein, bis ich es weglege. Die werden dir nicht bekommen, sage ich und weiß nicht, ob er mich versteht, er umklammert das Päckchen, als ich es ihm wegnehmen will, klagt: eine Art von taubem Muhen, ein Wimmern, die knochigen Finger halten die Verpackung fest.
    Wir wissen alle, dass die Welt sich aufspaltet in das, was ich bin, und das, was das Übrige ist. Der große existenzielle Spalt. Die ganze Geschichte der Philosophie kreist um dieses Thema, und es ist etwas, das wir für gegeben halten, von unseren ersten Wahrnehmungen an. Es gehört zu dem unentbehrlichen Gepäck fürs Leben, aber für dich ist das Leben nichts anderes gewesen als Kampf zwischen dem Ich, deinem Ich, und den Übrigen, die zu einer Gesellschaft von Komplizen gehörten, eine schuldige Familie, aus der du dich ausgeschlossen fühltest. Du hast dich kaum geirrt, fast alle sind Komplizen gewesen, waren es. Du hattest sie vor dir, kniend in der Messe, furchtsam vor den Autoritäten buckelnd, mit zitternder Stimme auf die Fragen des Kommissars antwortend, ein Stimmchen wie von einer ängstlichen alten Frau, und, das vor allem, sie stürzten sich wie ein Wolfsrudel auf die Reste der Gefallenen, fraßen sie ohne jede Scham auf. Sie denunzierten einander, um aus ihrer Polizeiakte die Erinnerung an das halbe Dutzend Jahre zu löschen, in denen sie mutig laut herausgesagt hatten, was sie dachten, drängelten sich nun bei den Versteigerungen der beschlagnahmten Güter. Du hast deineNachbarn mit der Trikolore gesehen in den Jahren der Republik, auch noch in den ersten Tagen des Militäraufstands, als sie noch überzeugt waren, den Krieg zu gewinnen, und du hast sie bei deiner Rückkehr gesehen, als alles vorbei war: Zum Denunzieren standen sie Schlange vor dem Rathaus, brachten eilfertig die Schlägertrupps auf die richtige Fährte, raunten ihnen zu, in welchem Versteck, in welchem Landhaus, auf welchem Speicher, in welcher Scheune, in welcher Berghöhle oder in welchem Winkel des Sumpfgeländes man den Flüchtigen, der einen interessierte, finden konnte. Jede Information war wertvoll, um die eigene Haut zu retten. Plötzlich war es nicht mehr ihr Stolz, die Faust zu heben, die Internationale zu singen und ein dreifarbiges Tuch zu schwenken. Jetzt war man darauf stolz, ein halbwegs neues Jackett zu tragen (das blaue Hemd wagten sie noch nicht, riskierten sie doch, zusammengeschlagen zu werden: Du? Du wagst es, das heilige blaue Hemd zu tragen, das José Antonio mit seinem Blut rot gefärbt hat?), maßvoll ungezwungen mit dem lokalen Führer der Bewegung, dem Kommandanten der Guardia Civil zu reden; stolz darauf, dass deine Frau, bedeckt mit einer schwarzen Spitzenmantilla, vorne in der Kirche, in einer der ersten Reihen, bei der Zwölf-Uhr-Messe, beim Hochamt, niederkniet (langsam, erhobenen Hauptes watschelnd, legt sie die kurze Strecke zwischen ihrem Haus und der Kirche zurück, damit man sie auch ja sieht, die Mantilla bedeckt ihr Haar, die Hände halten das Gebetbuch, um das der Rosenkranz geschlungen ist). Ich bin ein Mann und habe Hosen an, sagten sie bei jeder Gelegenheit, grüßten aber ängstlich den Kasper von der Falange, der sich den Krieg über versteckt gehalten hatte – eben einer von der fünften Kolonne –, und reihten sich mit Informationen über das inzwischen in Olba Geschehene im Hofstaat der Sieger ein. Sie zogen die Mütze und beugten den Kopf, wenn ein Stadtrat vorbeiging oder die Streife von der Guardia Civil, und sie küssten dem Priester die Hand. Männer wie Stiere beugten das Rückgrat und drückten ihre Lippen

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