Am Ufer (German Edition)
dir konnte sie ja auch keiner lesen. Wir wussten nichts von ihrer Existenz. In der Einsamkeit von Olba, die dich zu melancholischen Spaziergängen übers Land verurteilt (wenn ich mich mit jemandem treffe, mache ich ihn doch verdächtig, rechtfertigtest du dich; ich glaube, du ertrugst einfach keinen. Und dein Genosse? Der Vater von Álvaro?), du päppelst dich selbst mit diesen Notizen auf: Sie sind die Nährstoffe, die es dir erlauben zu widerstehen, bis dein Tag kommt.
Wie schnell die Zeit vergeht, und wie langsam
, das hattest du geschrieben,
jeder Tag wird mir zu einem Jahrhundert.
Die Zeit. Während sie schnell die Erinnerung an das Schreckliche tilgte, brachte sie andere Spielarten des Unheilvollen hervor. Wie gesagt: keinerlei Anmerkung über uns, deine Frau, deine Kinder; nicht einmal deine Mutter und deine Geschwister tauchen hier auf. Auf diesen Kalenderblättern werden wir nicht geboren, haben auch nicht Geburtstag, leiden an keiner Krankheit und kommen auch nicht in die Schule; deine Mutter stirbt in diesen Jahren, 1950 oder 51, aber das taucht nicht auf. Wir sind keine Erwähnung wert, wir sind nicht Teil des weltweiten sozialen Fortschritts, wir rühren keinen Gott, wir stehen außerhalb dieses universalen Systems von Schmerz, Ungerechtigkeit und Widerstand, wir gehören nicht zu der Legion der verwandelten Leiber, der bleichen Genossen, am Horizont zu erahnen. Wir reichen auch nicht an die großen Ideen heran, von denen sie sich nähren. Wir sind das Private, das Erbärmliche, das, was dich fesselt und am Boden hält, an der Grenze zum Tierreich: Geboren werden, essen und koten, arbeiten, sich vermehren. Und auf welch triste Weise man sich vermehrt, es stellt einenauf eine sehr niedrige Stufe der Spezies. Das Sterben: auch nicht gerade eine filmreife Szene, da ist wieder diese Nähe zum Tier, eine Rückkehr, die deine Wahrnehmung bestätigt. Alles, was du weißt und gelernt hast, löst sich in nichts auf. Wesen ohne öffentliche Bedeutung, Individuen, die wie die Blätter im Herbst fallen. Andere werden in ein paar Monaten hervorsprießen und sie ersetzen, und es wird keinen Unterschied geben zwischen diesen und jenen.
Als Francisco das Haus der Civeras kaufte und instand setzte, hat er die Schreinerarbeiten nicht mir anvertraut. Er wollte einen Restaurator. Die Maurer hatten die Mauern bearbeitet und den Stein der Fassade in all seinem Glanz ans Licht gebracht, die Pfosten und Türstürze waren aus jenem porösen Meeresgestein gebaut, das man Tosca oder Tuff nennt, und die Eingangstür und die Balken – beide aus Elliotikiefer – sahen nach der Arbeit des Kunsttischlers und Restaurators wie neu aus. Sie hatten die Esszimmermöbel aufgearbeitet (du kennst dich doch mit solchen Hölzern nicht aus, das ist ein Ensemble, dass jeden Antiquitätenhändler verrückt machen würde und einen Saal im Museum für sich beanspruchen könnte), und die ganze Batterie von frei stehenden und eingebauten Schränken, Toilettentischen, Nachttischchen, Betten, Wandschränken, Regalen und Simsen, die über das ganze Haus verteilt waren. Es handelte sich um Möbel aus Nussbaum, Kirsch, Linde, Palisander oder Jakaranda, geradezu ein Katalog von Formen und Materialien, dazu die gesamten Türen von Küche, Salon, Vestibül, alles war im Preis des Hauses inbegriffen, alles, sie haben nicht ein Brett mitgenommen, komm, ich zeig’s dir, sie haben sogar dieses Vertiko dagelassen, schau nur, und das Tischchen hier mit den Intarsien, da ist Elfenbein eingelegt. Die Handwerker haben das Haus in einen Zustand versetzt, als sei es gerade erst bezogen worden; eigentlich haben sie es noch verbessert, weil wir besseren Lack verwendet und die Übermalungen abgetragen haben, die, vor zwanzig oder dreißig Jahren in mieser Qualität ausgeführt, das Holz beschädigten und zerfraßen,wir haben sämtliches Holz gegen Milben behandelt, wir haben einen kleinen Herd von Holzwurmbefall festgestellt und ihn ausgemerzt. Die Geschwister konnten einander nicht riechen, und sie haben das Haus auf einen Schlag verkauft, um gar nicht erst in einen Dein-Mein-Streit zu verfallen, sie wollten Geld auf die Hand und alles auf einmal: Denk nur, was sie hier hätten rausholen können, wenn alles ordentlich verkauft worden wäre, bei Versteigerungen, an Antiquitätenhändler, aber nein, sie haben die Option Fort mit Schaden vorgezogen. Sie haben weniger Geld bekommen, dafür aber nicht vor den jeweils anderen im Streit zu Kreuze kriechen müssen: Sie haben
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