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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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arbeiten konnte, die Zukunft von jemandem sicherte, hatte sein Leben keinen Sinn, sein Verrat (nennen wir es mal so, da er selbst es dafür hielt) hätte dann nur ihm allein genützt. Dann wäre er kein Märtyrer gewesen, sondern ein Feigling, ein eingekreister Stier mit Stalldrang, wie ich es gewesen bin. Meine Mutter bot ihm ein zu kleines Terrain, um seine Autorität auszuüben. Er fühlte sich zu wichtig, um nur über eine ängstliche kleine Frau zu herrschen, von der er nie so recht wusste, ob sie ihn liebte oder nicht, und der ihre Familie, wohlhabende Bauern, nie die überstürzte standesamtliche Heirat mit einem halbwüchsigen Schreiner verzieh, der ihr ein Kind gemacht hatte und selbst nur Sohn eines armen, roten Schreiners war. Er musste seine Befehlsgewalt ausdehnen. Der Tod meines Bruders hat mich an die Werkstatt gefesselt, obwohl jener nie hatte bleiben wollen, oder vielleicht auch gerade deshalb, weil er nicht hatte bleiben wollen und es am Ende mit Krankheit und Tod bezahlte. Das ist die offizielle Version. Nicht schlecht, der Tod fesselte mich an die Werkstatt, klingt nach sowjetischer Tragödie oder der sozialen Variante eines Westerns von Sergio Leone. Die Schuld an meinem Versagen habe ich bis heute nicht abwerfen können, obwohl ich gespürt habe, dass ich biologisch ein Sklave auf der Suche nach einem Herrn bin, ich weiß nicht, ob diese Folgsamkeit in meinen Genen liegt oder ob sie mir mit der Milch, die ich gesaugt habe, übertragenwurde. Würdiger Sohn meiner Mutter, der Königin der Seufzer, bei der die Tränen herabrollen, so als solle sie keiner sehen, damit aber alle wissen, dass sie weint, die schnelle Bewegung mit dem Taschentuch zu den Augen, sie scheint der Vertuschung zu dienen, während diese Geste ihre Tränen doch zum unbestrittenen Star des Augenblicks macht, sei es bei einem Abschied, einer Diskussion, einem Streit, weil einem Befehl nicht gehorcht oder ein Wort zu laut ausgesprochen wurde. Sogleich Tränen. Seufzer. Und als Kontrapunkt der wachsende Zorn meines Vaters. Ich habe oft gedacht, ob meine Großmutter vielleicht recht gehabt hatte mit ihren Zweifeln, ob es denn wirklich Liebe war, als sie ihn drängte, sich zu stellen, ja, auch ich habe es oft gedacht, denn diese mit falscher Scham vorgezeigten Tränen und die Vorwürfe dienten dazu, das Schlechteste aus ihm her auszuholen, den wenigen Stolz, der ihm noch blieb, herunterzustutzen. Sein unkontrollierter Zorn, wenn er sie weinen sah, das Türenschlagen, und dann stundenlang die angespannte Stille, wenn er sich in der Werkstatt oder in dem Zimmerchen, das er sein Büro nannte, verkroch; sie weinte, und er wurde wütend, und danach muss er seine Brutalität gehasst oder ganze Tage Selbstmitleid verspürt haben, er verachtete sich, sah bestätigt, dass sein Leben ein Irrtum gewesen war. Und in diesem Klima, oder in dem Schweigen, das nach ihrem Tod einzog, verliefen meine knapp fünfzig Jahre Schreinerdasein, ich versuchte, die Seiten der Vergangenheit zu löschen, sie leer zu machen, meine Gewohnheiten und meine Ansprüche denen der anderen anzupassen, das reine Nichts, der Anis am Mittag, das Spielchen am Abend, ein paar Mal im Monat das Lovers oder das Ladies (vor dem Lovers war es El Rincón, und davor Caricias, wie ich schon sagte, es wechselte den Namen und den Ort, war aber dasselbe Lokal). Achtziger-, Neunzigerjahre, Ende des 20. Jahrhunderts, 21. Jahrhundert, immer allein, auf der Hut vor Zeugen, manche halten mich für schwul, keine Freundin, keine Geliebte, keine Nutten, ich weiß, was einige hinter meinem Rücken erzählen; mit anderen klebte ich an ein und derselben Bartheke – siehalten mich für einen lasterhaften Sonderling. Die Werkstatt, das Essen mit meinen Eltern, dann das Essen ohne meine Mutter, wir beide, mein Vater und ich, allein, wir wechselten kein Wort, bewegten uns zwischen den Maschinen, den Arbeitsplatten, reichten uns das Werkzeug: eine Handbewegung, ein Befehl, nimm das, das hier muss vor Feierabend fertig sein, morgen wird es dem Kunden gebracht, halt mal das Brett; im Haus drei geschlossene Zimmer, und das meine mit zwei Betten, eines davon leer (Onkel Ramón schlief darin, als meine Geschwister noch hier wohnten), außer dann wenn meine Schwester mit ihren Kindern auftauchte und das Bett für die Kinder in Beschlag nahm; die restliche Zeit über war ich der Rest dessen, was eine Familie gewesen war. Anfangs las ich und hörte Platten; mein Vater schlief seit dem Tod meiner Mutter im

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