Am Ufer (German Edition)
Geschichte glaubwürdig werden. Aber darüber hinaus, oder vielleicht auch deshalb, hatte er ein Projekt. Reisen, Vögeln, Drogen, Kino, Musik, über dieses und jenes mit den einen und den anderen diskutieren, das gehört alles zur ursprünglichen Kapitalakkumulation, wie Marx das nannte. Für seinen Vater waren das die nächtlichen Jagden gewesen, die Ausflüge mit den Autoritäten zu den Klippen von Misent und an die Theken der Nachtclubs. Die Methoden hatten sich verändert, aber der Mechanismus funktionierte nach wie vor. Sogar dieses Spucken auf das Bild des Falange-Vaters gehörte zu seinem Bildungszyklus. Es galt, das Fundament zu legen für dieses Unternehmen in der Potenz, das Francisco Marsal gewesen ist. Und das ist gewiss noch ein Stück leichter, wenn deine Akkumulation nicht wirklich die ursprüngliche ist, sondern ein Zuwachs in der zweiten Generation, denn dein Vater hat bei seiner Akkumulationsarbeit und in seiner eigenen Entwicklungsphase Dinge getan, die weit weniger erbaulich waren als deine Aktivitäten, er hat dir erspart, mit Dung zu arbeiten, was sein muss, will man eine Plantage anlegen; ein kleines, bereits bestehendes Kapitalin der Hinterhand zu haben gibt einem diese Perspektive von Kontinuität, es multiplizieren sich die Synergien; es ist eben das Kapital, das du nicht zusammenbekommst, wenn du von einem Job zum anderen springst, von einer Gelegenheitsarbeit zur anderen, so wie ich es in London und Paris getan habe, hier und dort putzen, die einen oder anderen treffen, wie es im Chanson von Aznavour heißt,
rien de vraiement précis:
Das stößt dich in einen Tunnel ohne Licht am Ende, erstickt dich, verbrennt dich, vernutzt dich. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass bei dieser Dynamik das Wunder geschieht. Er fabrizierte oder konstruierte sich, wie sagt man da am besten, ein Curriculum, dazu gehörte, dass er bald seinen Posten eines schlecht bezahlten Schullehrers aufgab, den er auch nicht aus Not angenommen hatte, sondern eher um den Riten seines Bildungsromans zu genügen; davor war das mit der HOAC, sein katholisches Engagement, und die Besuche in den Arbeitervierteln, seine Militanz, die er dann aufgab, um sich der Politik zu widmen, der er auch müde wurde, sobald er das Spinnennetz gewoben hatte, in dem er später seine Beute fangen konnte.
»Das mit dem Wein und den Restaurants, das hält mich aus der Schusslinie in diesen Zeiten, wo jedermann in die Politik gehen will, Stadtrat, Sekretär, Abgeordneter oder eben Parlamentsreporter werden will«, erzählte er mir.
So redete er Mitte der Achtziger, als das politische Fieber überwunden war. Von der großen Hoffnung zur großen Gelegenheit. Die Zeiten erlaubten das. Eine solche soziale Beweglichkeit, eine solche Geschäftigkeit wie damals wird sich in Jahrzehnten wohl nicht mehr einstellen. Also hat Francisco Marsal der Menschheit keine Traktate über marxistische Ethik, wenn es diese Disziplin denn gibt, geliefert; auch keine Essays über das Verhältnis von politischem Kampf und Klassenkampf, oder über den Begriff des Bürgerrechts bei dem Apostel Paulus und bei Augustinus; auch nicht den großen Roman, den er manchmal behauptete schreiben zu wollen (wer wollte nicht einen Roman schreiben? Ich. Ich wollte wederRomane schreiben noch bildhauern und wollte um nichts in der Welt Schreiner werden, schon gar nicht im Haus meines Vaters. Ich wollte leben, und wusste nicht, was das war, leben, für mich war das bis zum Gehtnichtmehr mit Leonor zu vögeln, sie zu besitzen, über sie zu verfügen), sondern stattdessen Artikel über etwas so Unbeständiges wie Wein, Küche und Reisen. Ich meine nicht, dass diese Tätigkeiten unbeständig sind, Francisco hat Artikel über Wein und Gastronomie geschrieben, und tatsächlich haben Wein und Essen ja ihre Bedeutung, gewiss doch: Wir sind, was wir essen und trinken. Was aber bedenklich ist, dass jemand mit Worten etwas einzufangen versucht, das sich verflüchtigt, im Moment des Konsums zu existieren aufhört, man schreibt nicht, theoretisiert nicht, kann nicht den Anspruch erheben, eine unvermittelbare Erfahrung zu begründen. Die Mystiker haben sich in dieses Thema hineingekniet. Wie kann man von einer Ekstase erzählen? Jede Flasche Wein unterscheidet sich von den anderen. Jedes Gericht schmeckt anders, auch wenn man es nach demselben Rezept kocht. Wenig später, bei einer seiner Reisen nach Olba, überreichte er mir voller Stolz das Kärtchen: vinofórum Francisco Marsal. Direktor. Er war
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