Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
Vom Netzwerk:
Garnelenkopf in den Mund schoben (der Kopf ist das Leckerste, mein General), und nahmen sie mit in die Klubs mit den besten Schwalben. Als er nach und nach etwas von der Familiengeschichte erfuhr, spuckte er auf die Jugendbilder seines Vaters, die dieser im Büro hängen hatte, Blauhemd mit Koppel, das spinnenartige Emblem auf die Brust gestickt – achtete aber darauf, die Spuckspuren zu beseitigen, bevor sein Alter hereinkam –, und hatte keine Freude an der bronzenen Büste von José Antonio, die der Vater als Briefbeschwerer benutzte. Die Freunde hielt er von diesem Sanktuarium fern, das die Reliquien der Erbsünde bewahrte. Ich glaube, mir war es als Einzigem gestattet, diesen Raum zu betreten, den er als unehrenhaft ansah, weil er die finsteren Ursprünge von Don Gregorio Marsal dem Älteren offenbarte. Sein Sohn verabscheut dieses Arbeitszimmer, weil er in eine andere Welt entfleucht ist, in der er, wie ein Astronaut, die Schwerelosigkeit genießen kann, nichts, was ihn an den Boden der jüngsten Geschichte und deren Vulgarität fesselt. Die Tute-Partien, bei denen Don Gregorio die kleine Pistole im Halfter sehen ließ, die Kitschmusik, die Mama, die Kroketten brät, der Nachttopf unter dem Bett, der Einlauf für den Opa, all das ist getilgt; er genießt es, nicht in den Staub und Schmutz des Ursprungs steigen zu müssen, er lebt in der Schwerelosigkeit, in der man sich in der günstigsten Form wieder zusammenbauen kann. Seine neue Welt: die Crépinettes und die Crème Parmentier, Foie gras aus dem Périgord und Poularden aus Bresse, die goldenen Wälder Frankreichs im Herbst, die Weinberge mit ihren roten Laubranken, die unter der schwachen Oktobersonne an irgendeinem Ort im Burgund aufleuchten. Ich, wie auch alle anderen, habe ihm in jenen Jahren – die Achtziger hatten Einzug gehalten – mit offenem Mund gelauscht. Sein Hasenschnäuzchen erschnupperte in einem Glas einen ganzen Obstladen:Kirsche, Pfirsich, Pflaume; ein Holzlager: Zeder, Eiche; einen Kolonialwarenladen: Honig, Zucker, Kaffee; einen untergegangenen Garten: da ist ein Hintergrund aus Wasserpflanzen, Seerosen in klarem, stehendem Wasser. Als wisse er nicht, dass Lilien und Seerosen, wie alles, was im Sumpf wächst, nach faulem Fisch riechen. Ess- und Trinkkultur, Kenntnis der Haute Cuisine. Abends dann in meinem Zimmer kramte ich in den mageren Bücherregalen auf der Suche nach einem Buch von der Luxemburg, von Gramsci oder von Marx und entdeckte, dass sie auch mir, wer weiß wie, abhandengekommen waren. Kein einziges war zu finden. Ich kam auch nicht darauf, was ich mit ihnen angefangen hatte. Das Nächstliegende: Ich las sie, weil Francisco sie mir lieh. Oder vielleicht habe ich sie auch gar nicht gelesen. Ich habe über sie geredet, ohne sie je aufgeschlagen zu haben. Sie lagen in der Luft. Ein dichter, mitteleuropäischer Dunst, Nacht und Nebel und das eiskalte Wasser überschwemmten das Hirn und überdeckten die Erinnerung an diese Etappe, die ich aufgab, als ich meine Rückkehr nach Olba beschloss, sowie an eine epische Erzählung, die ich nie als meine eigene empfunden hatte. Auch in meinem Fall hatte die Vergangenheit aufgehört zu existieren, sobald ich zur Schreinerei zurückgekehrt war. Ich ertrug die stets mysteriösen Anspielungen meines Vaters auf Dinge, die sich ereignet hatten, nicht. Zunächst begriff ich sie nicht; sodann langweilten sie mich. Und schließlich fand ich sie widerwärtig. Er dachte sich, dass ich das Schreinerhandwerk aus einer Art von Berufung heraus aufgenommen hatte, und dann hatte er es eilig, mir davon zu erzählen, dass er Teil dieser epischen Erzählung sei, aber ich war nicht bereit, ihm zuzuhören. Ich sagte ihm: Der Groll lässt dich nicht leben. Das ist vorüber, Schluss aus und vorbei, kapier es doch endlich. Wie Francisco hatte auch ich einen Planeten der Schwerelosigkeit betreten. Leonor brachte mich zum Schweben und ließ mich dann fallen. Etwas habe ich aus all dem gelernt, über die Phase der Wiedereingewöhnung, diese Zeit des Druckausgleichs, welche die Taucher brauchen, um wieder an die Oberflächezu kommen, obwohl, damals habe ich vor allem gelitten, ganz fürchterlich gelitten, sie war in allem, was ich ansah, anfasste: Es war keine Liebe, die Liebe dauert nicht so lang, es waren schon einige Jahre vergangen, es musste eher Groll sein, der Groll hat kein Verfallsdatum, sie fliegt davon und rettet sich, und ich geh ihretwegen vor Anker und steh nun allein da, rudere mit den Armen im

Weitere Kostenlose Bücher