Am Ufer (German Edition)
Nebenzimmer (warum in diesem und nicht in dem am anderen Ende des Ganges, das er mit seiner Frau geteilt hatte? Oder in dem von meiner Schwester Carmen, das ebenfalls weiter entfernt ist? War um liegt er auf der Lauer, Wand an Wand, horcht auf mein Stöhnen, das Knarren des Betts, verwandelt es in Schuld?), er klopfte an die Wand, jedes Mal wenn ich den Plattenspieler etwas lauter stellte. Ich lese schon seit Jahren nicht mehr, höre auch keine Platten, aber ich höre nach Mitternacht die Sendungen für einsame Herzen, Verlassenheit, unbefriedigender Sex, kaputte Liebe, fürchterliche Krankheiten, unheilbar, das, was es so gibt, die Welt zeigt sich bei Nacht von ihrer harten Seite. Das Radio fängt sie so ein und möchte sie erweichen oder dass wir sie wieder weich wahrnehmen, und während ich diesen ganzen Katalog des Unglücks, bonbonsüß verpackt, höre, denke ich Nacht für Nacht an die Menschen, die ich gekannt und nie wiedergesehen habe; von einigen weiß ich gerade noch die Namen, keinen könnte ich wiederfinden, uns verbindet kein gemeinsamer Bekannter, nichts, Menschen, die im großen Sack verschwanden, ich denke an jene, die gegangen sind – welche von ihnen? Wie viele? –, und daran, dass ich selbst bald gehen werde und dass, wenn ich weg bin, niemand sich ihrer erinnern wird,niemand sich meiner erinnern wird. Keiner denkt an mich in diesen Stunden vor dem Morgengrauen. Ich selbst bin Stoff für solche Rundfunksendungen. Sich selbst wie einen Schatten zu spüren, durch den man gehen kann, mangelnde Dichte, einer, der nicht wie die anderen ist, sich aber bemüht, so zu sein, derjenige, der das sein will, was die anderen nicht mehr sein wollen; ein Fremder in einem Haus, das nie das meinige war, weder im Grundbuch noch in der Nutzung: die Türen haben sich nicht dann geöffnet und geschlossen, wann ich es wollte, der Ärger meines Vaters, wenn ich in meinen jungen Jahren spät heimkam: Das hier ist kein Gasthaus, das nächste Mal schläfst du auf der Straße; es wurden nicht die Bilder oder Poster aufgehängt, die mir gefielen, mein Zimmer war eine Höhle, bewacht von den gefletschten Zähnen des schnüffelnden Hundes: Die Türen der Schlafzimmer werden nicht abgeschlossen, wir leben nicht unter Dieben. Nimm den Dreck von der Wand: ein paar politische Plakate – Dreck nannte er das; sie entsprachen doch seinen Vorstellungen, bei mir aber hielt er das für ahnungslos und leichtfertig, was es war –, ein paar Poster von Musikbands, die mir Francisco nach und nach mitbrachte: Crosby, Stills & Nash, die Rolling Stones, Bowie, Lou Reed, Janis. Wie Bernal sagt, wenn ihm jemand mit Problemen kommt: Was klagst du, der Herr ist barmherzig und hält uns am Leben. Was habe ich zu klagen, ich bin über siebzig und relativ gesund. Wie viele wären das gerne. Ein bisschen Cholesterin, Blutdruck und Puls eher hoch, ebenso die Blutfettwerte, aber das hat jeder in meinem Alter, wenn er das Glück hat, nicht etwas viel Schlimmeres zu haben. Was mir widerfährt, was mir widerfahren ist, habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich lästere über Francisco, und tatsächlich mag ich ihn nicht mehr so, wie ich ihn als Kind und in der Jugend mochte, ich weiß nicht, wann ich begann, Ressentiments zu entwickeln, das war vor Leonor, da bin ich sicher; aber jetzt beneide ich ihn auch nicht mehr, wie ich ihn so lange beneidet habe: Ich erkenne an, dass er sich getraut hat. Klar, er hatte ein solideres Fundament als ich. Zwischen Eskapade und Eskapadehatte er Zeit, Philosophie zu studieren, den einen oder anderen Rechtskurs zu belegen, und dann Journalismus. Er hat es gelernt zu denken und zu schreiben und Geschäfte nach den Regeln der Zunft abzuwickeln, Regeln, die man, wenn man oben sein will, beachten muss. Ich bin mit ihm mitgelaufen, an seiner Seite, bin ihm wie ein kleiner Hund gefolgt, meine Abenteuer aber waren vergeudet, die reine Verschwendung, ich glaubte, die Zeit zu verbrennen, dabei verbrannte ich selbst. Wenn du nicht weißt, wo du hin willst, ist kein Weg der rechte. Ich merkte nichts davon, aber ich fraß den kargen Proviant auf, den die Vorsehung mir in den Rucksack gelegt hatte. Andererseits darf man nicht vergessen, dass sein Turbo von dem erstklassigen Benzin angetrieben wurde, das ihm seine Eltern einfüllten. Da war das Geld, das er so sehr zu hassen vorgab, wir beide zu hassen vorgaben, und es gab manche diskrete Empfehlung. Das sind keine Kleinigkeiten. Man darf diese Details nicht weglassen, soll die
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