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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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nicht mehr der Boulevardschreiber, der Meldungen über Wein unter dem Pseudonym
Pinot Grigio
(das war ironisch, er hielt sich absolut nicht für grau: seine Artikel waren überaus geistreich) verfasste. Das Wort Direktor unter dem Namen einer angesehenen Zeitschrift flößte Respekt ein. Das war Ende der Achtziger, als eine gastronomische Zeitschrift nicht mehr ein Nachrichtenblättchen für den internen Gebrauch von Restaurantbelegschaften war, auch nicht eine Rezeptsammlung für Hausfrauen, Lesestoff für ein vorwiegend weibliches Publikum, sondern vielmehr ein Produkt für Männer, die sich durchgesetzt hatten und sich über die teuren Gaststätten, die hier vorgestellt wurden, informieren wollten, über die Etiketten angesagter Weine und andere Delikatessen, über deren Verkostung berichtet wurde. Sie wollten wissen, wie viel sie zu zahlen hatten und welchen gesellschaftlichen Mehrwert sie dadurch einheimsenkonnten, dass sie an einem bestimmten Ort aßen, eine bestimmte Flasche Wein bestellten oder dieses oder jenes besondere Gericht orderten, schließlich hatten sie bereits zu all dem Zugang, aber noch nicht gelernt, ungezwungen damit umzugehen (die Verwirrung des Kindes in einem Spielzeugladen oder in einem Süßwarengeschäft); und es hieß, schnell zu lernen, um sich von den Emporkömmlingen zu unterscheiden, die wellenweise von unten nachdrängten, denn auch diese hatten auf Sieg gesetzt und suchten begierig den Kontakt mit dem, was, wie sie glaubten, sehr bald ihre Welt sein würde, um sich, wenn sie endlich am Ziel wären, nicht ebenfalls wie verwirrte Kinder zu benehmen. Bevor man an die Dinge herankam, sie kennenlernte, ihre Namen wusste, ihre Qualitäten und Mängel, musste man ihren Preis und ihren Wert kennen, nicht so sehr den Tauschwert als vielmehr den Repräsentationswert, denn der Moment des Schmeckens hatte tatsächlich keine große Bedeutung, wichtig war die Phase davor: die Tafel mit diesen Weinen schmücken, dich selbst mit diesen Weinen schmücken, auf eben jenen Tischdecken in jenen Restaurants. Man ist nicht genau das, was man isst, wie es die Klassiker schreiben und ich selbst es für gegeben gehalten habe, man ist vielmehr, wo man isst und mit wem man isst, und wie man das, was man isst, richtig benennt und wie treffsicher man auf der Karte das einzig Richtige wählt, und das vor Zeugen, und man ist, dies ganz besonders, derjenige, der später erzählt, was und mit wem er gegessen hat. Weißt du das alles von einem Typen, dann weißt du, was das für ein Vogel ist. Auf welcher Höhe er fliegt. Ob er es wert ist, eine Viertelstunde mit ihm zu verbringen, für ihn das Glas zu zahlen, sogar ein Treffen zum Abendessen anzubahnen, eine Beziehung einzugehen. Oder ob du diesem Typen, der mit dir ins Gespräch zu kommen versucht, sagst, du kämest zu spät zu einer Verabredung und drei, vier Mal auf die Uhr schaust, bevor du hinwegeilst, obwohl er seinerseits bereit ist, dich zum Abend essen einzuladen. Und dann gibt es noch diejenigen, die eine halbe Stunde lang über die Eigenschaften eines Weines, den sie nie im Lebenkosten würden, sprechen konnten, und über ein Restaurant, in das sie nie einen Fuß setzen würden. Francisco erklärte: Das ist typisch für Parvenüs. Erste Phase des Ehrgeizes: die Genesis. Am Anfang ist das Wort. Das Wort geht dem Sein voraus (oder tritt zumindest kurzfristig an seine Stelle, ein Ersatz). Durch Bücher und Zeitschriften das kennenlernen, was die anderen täglich leben. Die Theorie geht der empirischen Kenntnis voraus, und der performative Wert der Worte bedeutet den ersten Schritt in der Aufwärtsbewegung. Sagen: Ich will. Ich habe es nicht gewagt. Ich meinte, dass Francisco irgendwohin gelangt war, wohin auch immer, habe aber nicht erkannt, dass die Arbeit eines Zeitschriftendirektors seine Energien nicht genug forderte und erst recht nicht seinen Ehrgeiz: Er war auf dem Weg. Von der Kanzel des Wein- und Küchenapostels aus war er zum heimlichen Geschäftsführer des Restaurants geworden, das Leonor bis zum Schluss führte und das bald zu einem der gastronomischen Tempel des Landes erklärt wurde; würde man Kirche statt Tempel sagen, hieße das, die Vollendung von Leonors Kroketten herabzusetzen – sublim, in der Sprache der Fresskritiker, ja sie benutzen solche Worte: die letzten Dinge, die Seligkeit, die Hölle, um eine Sauce béarnaise zu bestimmen. Die Gastronomen: Sie reichen an den Himmel heran mit einem Stockfisch al pil-pil. Das ist ihr Glück.

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