Am Ufer
weiterreden würde.
»Sie ist im ersten Kapitel der Bibel gegenwärtig, als Gottes Geist über den Wassern schwebte, und Er die Feste über den Wassern von der Feste unter den Wassern schied, die Er den Himmel nannte. Das ist die mystische Vermählung von Himmel und Erde. Sie ist auch im letzten Kapitel der Bibel gegenwärtig, wo es heißt:
Der Geist und die Braut sagen: Komm. Der, der hören kann, sage: Komm. Der, den es dürstet, sage: Komm, und der, der es will, möge das Wasser des Lebens umsonst bekommen.
»Weil das Symbol der weiblichen Seite Gottes das Wasser ist?«
»Ich weiß es nicht. Doch im allgemeinen wählt sie das Wasser aus, um sich zu offenbaren. Vielleicht, weil sie die Quelle des Lebens ist. Wir werden im Wasser ausgetragen, neun Monate lang bleiben wir dort.«
›Das Wasser ist das Symbol für die Macht der Frau, einer Macht, die kein Mann, so erleuchtet oder vollkommen er auch sein mag, je erlangen kann.‹
Einen Augenblick hält er inne, fährt dann aber weiter fort: »In jeder Religion, in jeder Tradition zeigt sie sich auf die verschiedenste Art und Weise, doch sie offenbart sich immer. Da ich katholisch bin, sehe ich sie, wenn ich vor der Jungfrau Maria stehe.«
Er nimmt mich bei der Händen, und kaum fünf Minuten später liegt Saint-Savin hinter uns. Wir kommen an einer Säule am Straßenrand vorbei. Das Kruzifix darauf ist seltsam: Die Heilige Jungfrau nimmt dort den Platz von Jesus Christus ein. Mir fallen seine Worte wieder ein, und ich bin überrascht.
Jetzt sind wir ganz von Dunkelheit und Nebel umfangen. Ich stelle mir vor, wie ich im Wasser bin, im Mutterleib, wo weder die Zeit noch der Gedanke existieren. Alles, was er gesagt hat, scheint Sinn zu machen, einen ungeheuren Sinn. Ich erinnere mich an die Frau beim Vortrag. Ich erinnere mich an die junge Frau, die mich mit sich zu dem Platz genommen hat. Auch sie hatte gesagt, daß das Wasser das Symbol der Göttin sei.
»Zwanzig Kilometer von hier gibt es eine Grotte«, fährt er fort. »Am 11. Februar 1858 sammelte dort ein Mädchen mit zwei anderen Kindern Holz. Es war ein zartes, asthmatisches Mädchen, dessen Armut schon Elend genannt werden konnte. An jenem Wintertag fürchtete es sich davor, einen kleinen Bach zu überqueren. Es hätte naß, krank werden können, und seine Eltern waren auf den kargen Lohn angewiesen, den es als Hirtin verdiente.
Da erschien eine weißgekleidete Frau mit zwei goldenen Rosen zu ihren Füßen. Sie behandelte das Mädchen wie eine Prinzessin, bat es höflich darum, eine bestimmte Anzahl von Malen dorthin zurückzukommen, und verschwand wieder. Die beiden anderen Kinder, die gesehen hatten, wie das Mädchen in Trance gefallen war, erzählten die Geschichte überall herum.
Von diesem Augenblick an begann für das Mädchen ein dornenvoller Weg. Es wurde festgenommen, und man verlangte von ihm, daß es alles leugnete. Leute versuchten, es zu bestechen, damit es die Erscheinung um einen Gefallen für sie bat. Anfangs wurde ihre Familie öffentlich beschimpft. Die Leute sagten, das Mädchen habe mit dieser Geschichte nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen.
Das Mädchen, es hieß Bernadette, wußte überhaupt nicht, was es da sah. Es nannte die Frau ›Jenes Wesen‹, und seine besorgten Eltern suchten beim Dorfpfarrer Hilfe. Der Pfarrer schlug vor, daß es, wenn es die Erscheinung wieder sah, diese bitten sollte, ihm ihren Namen zu nennen.
Bernadette tat, was ihr der Pfarrer aufgetragen hatte, doch die Antwort war nur ein Lächeln. ›Jenes Wesen‹ erschien ihr insgesamt achtzehnmal, zumeist schweigend. Einmal bat sie das Mädchen, die Erde zu küssen. Obwohl sie nicht wußte, worum es ging, tat Bernadette, was sie ›Jenes Wesen‹ geheißen hatte. Einmal bat sie das Mädchen, ein Loch in den Boden der Grotte zu graben. Bernadette gehorchte, und sogleich entstand eine Pfütze voll schlammigen Wassers, denn in der Grotte wurden die Schweine gehalten.
›Trink dieses Wasser‹, sagte die Frau.
Das Wasser ist so schmutzig, daß Bernadette etwas davon schöpft und es dreimal wieder weggießt. Sie wagt nicht, es zum Munde zu führen. Doch schließlich, obwohl sie sich davor ekelt, gehorcht sie. An der Stelle, an der sie ein Loch gegraben hat, beginnt Wasser zu sprudeln. Ein auf einem Auge blinder Mann benetzt sein Gesicht mit ein paar Tropfen und wird wieder sehend. Eine Frau, die verzweifelt war, weil ihr neugeborener Sohn im Sterben lag, tauchte das Kind an einem Frosttag in die
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