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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo
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jetzt in weite Ferne gerückt, vom selben Nebel eingehüllt, der sich über Saint-Savin gebreitet hat.
    »Warum hast du mir die Geschichte der Bernadette erzählt?« frage ich.
    »Warum, weiß ich nicht genau«, antwortet er, ohne mir in die Augen zu sehen. »Vielleicht weil wir hier nicht weit von Lourdes sind. Vielleicht weil morgen der Tag der Unbefleckten Empfängnis Maria ist. Vielleicht weil ich dir zeigen wollte, daß meine Welt nicht so einsam und verrückt ist, wie es scheinen mag.«
    ›Andere Menschen denken wie er. Und glauben, was er sagt.‹
    »Ich habe nie behauptet, daß deine Welt verrückt ist. Verrückt ist wahrscheinlich meine Welt: Ich vertue die wichtigste Zeit meines Lebens hinter Heften und Büchern, aber letztlich trete ich auf der Stelle.«
    Ich spürte, daß er erleichtert war: Ich hatte ihn verstanden.
    Ich wartete darauf, daß er weiter von der Göttin sprechen würde, doch er wandte sich zu mir: »Laß uns schlafen gehen«, sagte er, »wir haben viel getrunken.«

Dienstag, 7. Dezember 1993
    Er schlief sofort ein. Ich lag noch eine Weile wach, dachte an den Nebel, den Platz dort draußen, an den Wein und an das Gespräch. Ich las das Manuskript, das er mir gegeben hatte, und fühlte mich glücklich; Gott war – so es ihn wirklich gab – Vater und Mutter.
    Dann löschte ich das Licht und dachte daran, wie wir am Brunnen geschwiegen hatten. In jenen Augenblicken, in denen wir nichts sagten, hatte ich begriffen, wie nah ich ihm war. Keiner von uns hatte ein Wort gesagt. Man braucht nicht über die Liebe zu reden, denn die Liebe hat ihre eigene Stimme, sie spricht für sich selbst. In jener Nacht beim Brunnen hatte die Stille erlaubt, daß unsere Herzen sich einander näherten und sich besser kennenlernten. Da hatte mein Herz gehört, was sein Herz sagte, und war glücklich gewesen.
    Bevor ich die Augen schloß, machte ich jedoch noch die Übung, die er ›der oder die Andere sein‹ nannte.
    ›Ich befinde mich hier in diesem Zimmer‹, dachte ich, ›fern von allem, was ich gewohnt bin, rede über Dinge, für die ich mich nie interessiert habe, und schlafe in einer Stadt, in der ich noch nie gewesen bin. Ich kann – nur für ein paar Minuten – so tun, als wäre ich jemand anderes.‹
    Ich begann mir vorzustellen, wie ich jenen Augenblick auch erleben könnte. Ich würde fröhlich, neugierig, glücklich sein. Jeden Moment intensiv erleben, durstig das Wasser des Lebens trinken. Wieder Vertrauen in meine Träume haben. Fähig sein, für das zu kämpfen, was ich wollte.
    Einen Mann lieben, der mich liebte.
    Ja, so war die Frau, die ich gern wäre – und die unvermittelt da war und sich in mich verwandelte.
    Ich spürte, wie meine Seele vom Licht Gottes erfüllt wurde, an den ich nicht mehr glaubte – oder dem Licht einer Göttin? Ich spürte in jenem Augenblick, daß die Andere meinen Körper verließ und sich in eine Ecke des kleinen Zimmers kauerte.
    Ich sah die Frau an, die ich bislang gewesen war: schwach, aber vorspiegelnd, sie sei stark. Sie hatte vor allem und jedem Angst, verkaufte diese Angst aber als die Klugheit dessen, der die Wirklichkeit kennt. Vermauerte die Fenster, durch die die Sonne hereinscheinen und ihre alten Möbel ausbleichen könnte.
    Ich sah die Andere in der Ecke des Zimmers hocken: zerbrechlich, müde, enttäuscht. Die das in Ketten legte und versklavte, was eigentlich immer frei sein sollte: die Gefühle. Die eine zukünftige Liebe mit dem Maßstab vergangenen Leidens maß.
    Die Liebe ist immer neu. Gleichgültig, ob wir einmal, zweimal oder zehnmal im Leben lieben – jedesmal sehen wir uns vor eine Situation gestellt, die wir nicht kennen. Die Liebe kann uns in die Hölle führen oder ins Paradies, doch sie führt uns immer irgendwohin. Man muß sie annehmen, weil sie die Nahrung unseres Lebens ist. Verweigern wir uns, so sterben wir Hungers, während wir auf die von Früchten schweren Äste des Lebensbaumes blicken, jedoch den Mut nicht aufbringen, diese Früchte zu pflücken. Man muß die Liebe suchen, wo auch immer sie sich befindet, selbst wenn dies bedeutet, daß wir Stunden, Tage, Wochen voller Enttäuschung und Traurigkeit durchleben müssen.
    Denn in dem Augenblick, wo wir uns auf die Suche nach der Liebe machen, macht auch sie sich auf, uns zu finden.
    Und rettet uns.
    Als sich die Andere von mir entfernte, begann mein Herz wieder zu mir zu sprechen. Erzählte mir von dem Spalt in der Mauer des Stausees, durch den Wasser strömte, von überallher

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