Am Ufer
die uns unterwegs begegneten – Bauern in grauen Kleidern, die aufs Feld gingen, Bergsteiger in bunten Kleidern, die sich aufmachten, irgendeinen Gipfel zu besteigen.
Ich schwieg, denn mein Französisch war schauderhaft; doch meine Seele freute sich, ihn so zu erleben.
Sein Glück war so groß, daß alle, die mit ihm sprachen, lächelten. Vielleicht hatte ihm sein Herz etwas gesagt, und er wußte jetzt, daß ich ihn liebte – obwohl ich mich weiterhin wie eine alte Freundin aus der Kindheit benahm.
»Du wirkst fröhlicher«, sagte ich irgendwann zu ihm.
»Weil ich immer davon geträumt habe, einmal mit dir hier zu sein, durch die Berge zu wandern, die von der Sonne vergoldeten Früchte zu pflücken.«
»Die von der Sonne vergoldeten Früchte.« Diesen Vers hatte jemand vor langer Zeit geschrieben, und jetzt wiederholte er ihn – im richtigen Augenblick.
»Es gibt noch einen Grund für deine Fröhlichkeit«, meinte ich auf dem Rückweg von der kleinen Stadt mit dem merkwürdigen Brunnen.
»Welchen?«
»Du weißt, daß ich fröhlich bin. Dir habe ich zu verdanken, daß ich heute hier bin, fern von meinen Heften und Büchern, und wirkliche Berge besteige. Du machst mich glücklich. Und Glücklichsein vervielfältigt sich, wenn man es teilt.«
»Hast du die Übung, eine Andere zu sein, gemacht?«
»Ja, woher weißt du das?«
»Weil auch du dich verändert hast. Und weil wir diese Übung immer im rechten Augenblick lernen.«
Die Andere verfolgte mich den ganzen Morgen lang. Sie versuchte, sich mir aufs neue zu nähern. Dennoch wurde ihre Stimme von Minute zu Minute leiser, ihr Bild begann sich allmählich aufzulösen. Ich erinnerte mich an das Ende von Vampirfilmen, wo das Ungeheuer zu Staub zerfällt.
Wir kamen an einer anderen Säule mit einer Mariengestalt vorbei.
»Woran denkst du?« fragte er.
»An Vampire. An die Wesen der Nacht, die in sich selbst eingeschlossen sind und verzweifelt nach Gesellschaft suchen. Doch unfähig sind zu lieben.«
»Daher besagt die Legende, daß nur ein ins Herz gestoßener Pflock sie töten kann. Dringt er ein, erwacht das Herz, setzt die Energie der Liebe frei und zerstört das Böse.«
»So habe ich das nie gesehen. Aber es macht Sinn.«
Mir war es gelungen, diesen Pflock hineinzustoßen. Das vom Fluch befreite Herz war nun am Zuge. Für die Andere gab es jetzt keinen Platz mehr.
Tausendmal fühlte ich in mir den Wunsch, seine Hand zu ergreifen, und tausendmal bezwang ich mich, tat ich es nicht. Ich war verwirrt – wollte ihm sagen, daß ich ihn liebte, und wußte nicht, wie anfangen.
Wir redeten über die Berge und über die Flüsse. Wir verliefen uns fast eine Stunde lang im Wald, fanden dann aber den Pfad wieder. Als die Sonne sich zum Horizont zu neigen begann, beschlossen wir, nach Saint-Savin zurückzukehren.
Unsere Schritte hallten zwischen den Steinwänden wider. Ich führte, ohne nachzudenken, die Hand zum Weihwasserbecken und bekreuzigte mich. Ich erinnerte mich an das, was er zu mir gesagt hatte – das Wasser ist das Symbol der Göttin.
»Laß uns hineingehen«, sagte er.
Wir gingen durch die leere dunkle Kirche, in der unter dem Hauptaltar ein Heiliger begraben lag: der heilige Savinus, ein Eremit, der zu Anfang des ersten Jahrtausends gelebt hatte. Die Wände dieser Kirche waren mehrfach eingerissen und wiederaufgebaut worden.
Es gibt solche Orte – Kriege, Verfolgung und Gleichgültigkeit können sie zerstören. Doch sie bleiben immer heilig. Und dann kommt jemand dorthin, fühlt, daß etwas fehlt, und baut sie wieder auf.
Ein Kruzifix fiel mir ins Auge und löste ein merkwürdiges Gefühl in mir aus: Mir war, als hätte der Christuskopf sich bewegt und mir nachgeblickt.
»Halt mal.«
Vor uns befand sich ein Altar der Heiligen Jungfrau.
»Schau dir das Standbild an.«
Maria trug ihren Sohn auf dem Arm. Das Jesuskind wies mit dem Zeigefinger in die Höhe.
»Sieh genau hin«, beharrte er.
Ich versuchte mir jede Einzelheit der Skulptur einzuprägen: die Vergoldung, den Sockel, den vollkommenen Faltenwurf des Gewandes. Als ich beim Zeigefinger des Jesuskindes anlangte, verstand ich, was der Künstler ausdrücken wollte.
Denn Maria hielt zwar das Kind im Arm, doch sie wurde von Jesus getragen. Sein zum Himmel weisender Arm schien die Heilige Jungfrau emporzuheben. Hinauf zur Wohnstätte ihres Bräutigams.
»Der Künstler, der dies vor mehr als sechshundert Jahren geschaffen hat, wußte genau, was er ausdrücken wollte«, merkte er
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