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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo
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an.
    Schritte erklangen auf dem Holzboden. Eine Frau kam herein und zündete vor dem Hauptaltar eine Kerze an.
    Wir schwiegen eine Weile, um ihrem stillen Gebet unseren Respekt zu zollen.
    ›Die Liebe kommt niemals stückweise‹, dachte ich, während ich in die Betrachtung der Heiligen Jungfrau versunken war. Am Tag zuvor hatte die Welt ohne ihn noch Sinn gemacht. Jetzt brauchte ich ihn an meiner Seite, um den wahren Glanz der Dinge zu erkennen.
    Als die Frau hinausgegangen war, redete er weiter: »Der Künstler kannte die Große Mutter, die Göttin, das barmherzige Antlitz Gottes. Du hast mich etwas gefragt, was ich noch nicht richtig beantworten konnte. Du hast mich gefragt: ›Wo hast du dies alles gelernt?‹«
    Ja, das hatte ich gefragt, und er hatte mir eine Antwort gegeben. Doch ich schwieg.
    »Ich habe es durch diesen Künstler gelernt«, fuhr er fort. »Ich habe die vom Himmel kommende Liebe angenommen. Ich ließ mich führen. Du wirst dich an den Brief erinnern, in dem ich davon sprach, daß ich ins Kloster eintreten wollte. Ich habe es dir nie gesagt, aber ich bin tatsächlich eingetreten.«
    Ich erinnerte mich sofort an das Gespräch vor dem Vortrag. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich versuchte, mich mit dem Blick an der Jungfrau festzuhalten. Sie lächelte.
    ›Das darf nicht sein‹, dachte ich. ›Er ist ins Kloster eingetreten, doch dann hat er es wieder verlassen. Bitte sag mir, daß er das Seminar verlassen hat.‹
    »Ich hatte meine Jugend intensiv ausgelebt«, fuhr er fort, ohne sich diesmal darum zu kümmern, was ich denken mochte. »Hatte andere Völker und andere Länder kennengelernt. Hatte Gott bereits überall auf der Welt gesucht. Hatte mich bereits in andere Frauen verliebt und in den unterschiedlichsten Berufen für viele Männer gearbeitet.«
    Mein Herz zog sich abermals zusammen. ›Ich muß achtgeben, daß die Andere nicht wieder zurückkommt‹, sagte ich mir und hatte den Blick noch immer fest auf das Lächeln der Heiligen Jungfrau gerichtet.
    »Das Mysterium des Lebens faszinierte mich, ich wollte es besser kennenlernen. Viele Jahre lang war ich auf der Suche nach den Antworten überall dort hingegangen, wo ich die Hüter der Weisheiten vermutete. Ich war in Indien, in Ägypten. Ich habe Meister der Magie und der Meditation kennengelernt. Habe das Leben von Alchimisten und Priestern geteilt. Und entdeckte, was ich entdecken mußte: daß die Wahrheit immer dort ist, wo auch der Glaube ist.«
    Die Wahrheit ist dort, wo der Glaube ist. Ich sah mich noch einmal in der Kirche um: die abgewetzten Steine, die so viele Male eingerissen und wieder an ihren Platz gesetzt worden waren. Was ließ den Menschen so beharrlich daran arbeiten, diese kleine Kirche an einem so abgelegenen Ort hoch oben in den Bergen immer wieder aufzubauen?
    Der Glaube.
    »Die Buddhisten hatten recht, die Hindus hatten recht, die Indianer hatten recht, die Moslems hatten recht, die Juden hatten recht. Geht der Mensch ehrlich den Weg des Glaubens, dann wird es ihm gelingen, sich mit Gott zu vereinigen und Wunder zu tun. Doch dieses Wissen allein reicht nicht: Man muß eine Wahl treffen. Ich habe die katholische Kirche gewählt, weil ich mit ihren Mysterien groß geworden bin. Wäre ich als Jude geboren, hätte ich die jüdische Religion gewählt. Gott ist derselbe, auch wenn er tausend Namen hat. Doch man muß einen Namen wählen, um zu ihm beten zu können.«
    Wieder Schritte in der Kirche.
    Ein Mann näherte sich und sah uns an. Dann ging er zum Hauptaltar und nahm zwei Leuchter herunter. Es war wohl jemand, der in der Kirche nach dem Rechten sah, vielleicht der Küster.
    Ich dachte an den Wärter in der anderen Kapelle, der uns nicht hineinlassen wollte. Doch der Mann hier sagte nichts.
    »Heute abend muß ich mich mit jemandem treffen«, sagte er, sobald der Mann hinausgegangen war.
    »Bitte erzähl weiter, und wechsle nicht immer das Thema.«
    »Ich bin in ein Priesterseminar hier in der Nähe eingetreten. Vier Jahre habe ich alles Wissen, was sich mir bot, in mir aufgesogen. Damals begegnete ich das erste Mal den Erleuchteten, den Charismatikern, vielen anderen Strömungen, die versuchten, lange verschlossene Türen wieder zu öffnen. Ich entdeckte, daß Gott nicht dieser Rächer war, vor dem ich als Kind immer Angst hatte. Daß es Ansätze für eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Unschuld des Christentums gab.«
    »Du meinst also, man hätte nach zweitausend Jahren endlich begriffen, daß

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