Am Ufer
und der Pater tatsächlich Gedanken lesen konnte: dann sollte er sie doch lesen und alles wissen. Sollte er doch wissen, daß er gestern mit mir schlafen wollte und ich mich verweigerte und es nun bereute.
Gestern dachte ich, ich könnte mich, wenn er gehen müßte, an ihn immer als meinen alten Freund aus Kindheitstagen erinnern. Doch das waren Flausen. Auch wenn er körperlich nicht in mich eingedrungen war, so war etwas viel Tieferes in mich eingedrungen und hatte mein Herz getroffen.
»Pater, ich liebe ihn«, sagte ich noch einmal.
»Ich auch. Die Liebe ist immer töricht. In meinem Falle zwingt sie mich dazu, zu versuchen, ihn von seinem Schicksal abzuhalten.«
»Es wird nicht leicht sein, mich fernzuhalten, Pater. Gestern erfuhr ich während der Gebete vor der Grotte, daß auch ich fähig bin, diese Gaben in mir zu erwecken, von denen Sie sprechen. Und ich werde sie dazu nutzen, um ihn bei mir zu behalten.«
»Nun denn«, sagte der Pater mit einem feinen Lächeln. »Hoffentlich gelingt es Ihnen.«
Der Pater blieb stehen, zog seinen Rosenkranz aus der Tasche. Dann blickte er mir, während er ihn in der Hand hielt, in die Augen.
»Jesus hat zwar gesagt, du sollst nicht schwören. Und ich schwöre auch nicht. Aber ich sage Ihnen in Anwesenheit dessen, was mir heilig ist, daß es nicht mein Wunsch ist, daß er das Klosterleben fortführt. Ich möchte nicht, daß er zum Priester geweiht wird. Er kann Gott auf andere Weise dienen. Mit Ihnen an seiner Seite.«
Mir fiel es schwer zu glauben, daß er die Wahrheit sagte. Doch er tat es.
»Er war hier«, sagte der Pater.
Ich wandte mich um. Vor uns sah ich in einiger Entfernung einen Wagen stehen. Den Wagen, mit dem wir aus Spanien gekommen waren.
»Sonst kommt er immer zu Fuß«, meinte er lächelnd. »Diesmal wollte er uns glauben lassen, daß er weit weggereist sei.«
Der Schnee durchnäßte meine Turnschuhe. Aber da der Pater offene Sandalen mit Wollstrümpfen trug, wollte ich mich nicht beklagen.
Wenn er das aushalten konnte, konnte ich es auch. Wir begannen unseren Aufstieg zum Gipfel.
»Wie lange müssen wir noch wandern?«
»Höchstens eine halbe Stunde.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu ihm. Und den anderen.«
Ich spürte, daß er nicht weiter darüber reden wollte. Vielleicht aber brauchte er auch all seine Kraft für den Aufstieg. Wir gingen schweigend, der Nebel hatte sich inzwischen fast aufgelöst, und aus ihm trat die Sonne wie eine goldene Scheibe hervor.
Zum ersten Mal sah ich das Tal: einen Fluß, einige verstreute Ortschaften, und, an den Abhang gebaut, Saint-Savin. Ich erkannte den Kirchturm, einen Friedhof, der mir vorher nicht aufgefallen war, und die mittelalterlichen Häuser, von denen aus man auf den Fluß blicken konnte.
Etwas unterhalb von uns trieb ein Hirte seine Herde durch den Ort, durch den wir eben gekommen waren.
»Ich bin müde«, sagte der Pater. »Lassen Sie uns einen Augenblick Rast machen.«
Wir wischten den Schnee von einem Stein und lehnten uns dagegen. Der Pater schwitzte – seine Füße aber mußten tiefgefroren sein.
»Möge der heilige Jakobus mir Kraft geben, denn ich möchte diesen Weg noch einmal gehen«, sagte der Pater zu mir gewandt.
Ich wußte nicht, was er damit sagen wollte, und beschloß, von etwas anderem zu reden.
»Im Schnee sind Spuren«, sagte ich.
»Einige stammen von Jägern. Andere sind von den Männern und Frauen, die eine Tradition Wiederaufleben lassen wollen.«
»Was für eine Tradition?«
»Die des heiligen Savinus. Sich aus der Welt zurückziehen, in diese Berge gehen und sich in Gottes Herrlichkeit versenken.«
»Pater, etwas kann ich einfach nicht begreifen. Bis gestern war ich mit einem Mann zusammen, der nicht wußte, ob er das priesterliche Leben oder die Ehe wählen soll. Heute erfahre ich nun noch, daß dieser Mann Wunder tut.«
»Wir alle tun Wunder«, sagte der Pater. »Jesus hat gesagt: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: ›Hebe dich dorthin!‹, so wird er sich heben.«
»Ich will jetzt keine Religionsstunde, Pater. Ich liebe einen Mann und möchte gern mehr über ihn erfahren, ihn verstehen, ihm helfen. Mir ist es egal, was alle können oder nicht.«
Der Pater atmete tief durch. Einen Augenblick lang zögerte er, doch dann begann er:
»Einem Wissenschaftler, der auf einer Insel in Indonesien das Verhalten der Affen erforschte, gelang es, einem bestimmten Affenweibchen beizubringen, daß es die Kartoffeln in einem Fluß
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