Am Ufer
Fersen.
»Jetzt ist der Augenblick, in dem er sich entscheidet! Vielleicht entscheidet er sich gegen Sie!« sagte der Pater. »Kämpfen Sie um das, was Sie lieben!«
Doch ich ging weiter. Ich ging, so schnell ich konnte, ließ das Gebirge, den Pater, die Entscheidungen hinter mir. Der Mann, der hinter mir herlief, las meine Gedanken, daher mußte er wissen, daß er mich nicht umstimmen konnte. Dennoch ließ er nicht locker, argumentierte, kämpfte bis zum Ende.
Schließlich gelangten wir zu dem Stein, bei dem wir eine halbe Stunde zuvor gerastet hatten. Erschöpft warf ich mich auf den Boden.
Ich dachte an nichts. Ich wollte nur weg, allein sein, Zeit haben, um nachzudenken.
Der Pater kam wenige Minuten später. Auch er war von dem Weg erschöpft.
»Sehen Sie die Berge ringsum?« fragte er. »Sie beten nicht; sie sind bereits Gottes Gebet. Sie sind es, weil sie ihren Platz in der Welt gefunden haben und dort bleiben. Sie waren schon dort, bevor der Mensch in den Himmel blickte, den Donner hörte und sich fragte, wer dies alles geschaffen hat. Wir werden geboren, leiden, sterben, aber die Berge bleiben unverändert an ihrem Platz. Irgendwann in unserem Leben kommt der Augenblick, in dem wir uns fragen, ob sich die ganze Anstrengung überhaupt lohnt. Warum versuchen wir nicht zu sein wie diese Berge – weise, alt und an dem Platz, der uns entspricht? Warum alles aufs Spiel setzen, um ein halbes Dutzend Menschen zu verändern, die doch schnell wieder vergessen, was sie gelehrt wurden, und zu neuen Abenteuern aufbrechen? Warum nicht warten, bis eine bestimmte Anzahl Affenmenschen Wissen erworben hat und dieses, ohne Leiden zu verursachen, auf alle anderen Inseln übergeht?«
»Glauben Sie das wirklich, Pater?«
Er schwieg eine Weile.
»Lesen Sie Gedanken?«
»Nein. Aber wenn Sie das wirklich glaubten, hätten Sie nicht das Priesterleben gewählt.«
»Ich versuche immer wieder, mein Schicksal zu begreifen«, sagte er. »Und es gelingt mir nicht. Ich habe eingewilligt, unter dem Banner Gottes zu kämpfen, und ich habe unablässig versucht, den Menschen zu erklären, warum es Elend, Schmerz und Ungerechtigkeit gibt. Ich bitte sie, gute Christen zu sein, und sie fragen mich: ›Wie kann ich an Gott glauben, wo es so viel Leid auf der Welt gibt?‹ Und ich versuche ihnen zu erklären, daß es keine Erklärung dafür gibt. Ich versuche ihnen zu sagen, daß es einen Plan gibt, einen Kampf zwischen den Engeln, und daß wir in diesen Kampf verwickelt sind. Ich versuche ihnen zu sagen, daß in dem Augenblick, wo der Glaube einer bestimmten Anzahl von Menschen stark genug ist, um dieses Szenario zu verändern, diese Veränderung allen anderen Menschen überall auf der Welt zugute kommen wird. Doch sie glauben mir nicht. Sie tun nichts.«
»Sie sind wie die Berge«, sagte ich. »Die Berge sind schön. Wer vor ihnen steht, kann nicht umhin, an die Größe der Schöpfung zu denken. Sie sind lebende Beweise für die Liebe, die Gott für uns empfindet, doch die Bestimmung dieser Berge ist es, nur Zeugnis für diese Liebe abzulegen. Sie sind nicht wie die Flüsse, die sich bewegen und die Landschaft verändern.«
»Ja. Aber warum nicht sein wie sie?«
»Weil das Schicksal der Berge ein hartes Schicksal ist«, antwortete ich. »Sie sind gezwungen, immer dieselbe Landschaft anzuschauen.« Der Pater sagte darauf nichts. »Ich habe studiert, um ein Berg zu werden«, fuhr ich fort. »Jedes Ding hatte seinen Platz. Ich wollte Beamtin werden, heiraten, meine Kinder im Glauben meiner Eltern erziehen, obwohl ich ihn selbst verloren hatte. Heute bin ich entschlossen, dies alles aufzugeben und dem Mann zu folgen, den ich hebe. Zum Glück habe ich aufgehört, ein Berg sein zu wollen, lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten.«
»Das sind sehr weise Worte.«
»Ich wundere mich selbst. Vorher konnte ich nur über meine Kindheit sprechen.«
Ich erhob mich und ging weiter den Berg hinunter. Der Pater respektierte mein Schweigen und redete nicht mit mir, bis wir unten an der Straße angelangt waren.
Dort nahm ich seine Hände und küßte sie.
»Ich möchte mich verabschieden. Aber ich möchte Ihnen auch sagen, daß ich Sie und Ihre Liebe zu ihm verstehe.«
Der Pater lächelte und gab mir den Segen.
»Und ich verstehe Ihre Liebe zu ihm.«
Den Rest des Tages durchwanderte ich das Tal. Ich spielte mit dem Schnee, aß in einem Städtchen in der Nähe von Saint-Savin einen Sandwich mit Pate, schaute ein paar Jungen beim
Weitere Kostenlose Bücher