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Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)

Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)

Titel: Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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das sie in der linken Hand hielt. Sie war so versunken in das Buch, dass sie nicht aufsah. Er blieb einfach stehen und sah sie an. Sie merkte es nach einer Weile. Langsam klappt sie das Buch zu und sah ihm direkt in die Augen.
    Dann lächelte sie. Vielleicht, weil sie ihn wiedererkannte und an ihren kleinen Zusammenstoß denken musste. Jakob lächelte zurück, cool natürlich, und wusste, dass dies die Chance für ein Gespräch war.
    In diesem Augenblick streckte sie ihm die Zunge raus. Noch einmal Slow Motion . Sein am meisten gesehener Film: Sie streckte sie einfach ein kleines Stück heraus und lächelte.
    So sah sie ihn an. Nicht lange. Aber diese Zeitspanne zerlegte er später in jede verfluchte Hundertstelsekunde. Und die Analyse ergab zweierlei. Erstens: Sie gab ihm ein Zeichen des Vertrauens. Zweitens: Sie forderte ihn zu einer Reaktion auf. Zu einer Bemerkung, vielleicht nicht einmal zu einem vollständigen Satz. Zu irgendetwas. Und dann, er musste es zugeben, deutete diese wunderbare rosarote, ihm frech herausgestreckte Zunge etwas an, was er noch nicht erlebt hatte. Es war …
    Es war zu viel für ihn. Er drehte sich um und ging weg. In ziemlich schnellen Schritten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war: Er stürmte davon.
    Er hatte es ein zweites Mal vermasselt, und er verfluchte sich dafür. Ziemlich oft. In den folgenden Wochen sah er sie nur einmal kurz.
    Ich brauche einen Plan, dachte er. Ich erzwinge die dritte Chance.
    Wenn eine so kluge Schönheit kein Fleisch mehr aß, musste sie Gründe haben. Er überlegte lange.
    Statt nach Hause in den Stuttgarter Westen zu fahren, nahm er ihre Straßenbahn zum Killesberg und fragte sie einfach. Und tatsächlich: Sie war nicht beleidigt oder so, sie redete mit ihm. Er fragte, und sie erklärte, und plötzlich hielt die Straßenbahn an der Endhaltestelle. Er ging einfach neben ihr her, bis sie vor dem Haus ihrer Eltern standen, und sie sagte, er solle doch mitkommen, es sei so schön mit ihm zu reden.
    Ihre Eltern besaßen ein kleines Haus, beste Lage, schöner Blick über das Feuerbacher Tal. Die Mutter war Pfarrerin, der Vater war Lehrer, keiner der beiden war zu Hause, und daher standen sie alleine in der großen weißen Küche. Laura zerschnippelte zwei Zucchini, zwei Tomaten, zwei Paprika, zerteilte eine Chili, schnitt Kräuter darüber, häufte alles auf zwei Alufolien, gab Schafskäse dazu, verschloss die Folie zu zwei silbernen Paketen, die sie in den Backofen schob, und nach einer halben Stunde aßen sie das immer noch bissfeste Gemüse. Es schmeckte herrlich. Er saß Laura gegenüber, und sie erklärte ihm ihre Philosophie.
    Ihre Überlegungen waren im Grunde einfach. Eigentlich esse ich gerne Fleisch. Es schmeckt mir. Sogar sehr gut. Mein Vater grillt gern, und meine Mama brät den besten Rostbraten der Welt. Ich bin verrückt nach den Rouladen meiner Großmutter. Sie macht sie mit Speck, herrlich.
    Aber?
    Überleg doch mal. Dafür muss jedes Mal ein Tier sterben. Ein Schwein, ein Rind, ein Huhn, irgendein Tier.
    Jakob zuckte mit der Schulter. So war das eben. Na und? Er aß Fleisch. Er aß Fleisch, seit er denken konnte. Seine Großmutter hielt Hühner und Kaninchen, und wenn er sie besuchte, schlachtete sie eines davon. Jeder half, der Vater, sogar er. Seit er groß genug dafür war, schnitt er die Flügel vom Huhn oder zerteilte das Brustfleisch gerecht in mehrere gleich große Teile. Die Essen bei der Oma in Altglashütten waren immer etwas Besonderes gewesen. Zu dritt saßen sie um den Tisch, die Großmutter, der Vater und er. Seine Eltern waren damals schon getrennt, Mama war nie dabei. Die Essen bei der Oma waren seltene Momente, in denen er von seiner Mutter getrennt war und sie nicht vermisste.
    »Es ist so«, sagte Laura ernst. »Kein Tier stirbt gerne. Keines will von uns gefressen werden. Es will leben.«
    Sie sagte tatsächlich »gefressen« statt »gegessen«, so, als wären die Menschen Tiere.
    »Sie wehren sich.«
    Nun, das stimmte. Und stimmte auch wieder nicht. Er erzählte ihr, wie die Hühner fortrannten, wenn die Oma ihr eingezäuntes Gehege betrat. Sie hatte meist eine Handvoll Weizenkörner dabei, rief »put, put, put« und streute die Körner. Die Hühner kamen, pickten und zack! – plötzlich hatte die Oma eines der Hühner gepackt, hielt es hinter den Flügeln fest und trug es zu dem großen Hackklotz vor dem Stall.
    Jakob sah, dass Laura ihm aufmerksam zuhörte, und er berichtete ihr, wie ihm schon als kleiner Junge

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