Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
von der PlaÇa de Catalunya. Und er schrieb ihr:
Bleib cool. Lass mich doch ein paar Tage ausspannen mit meinen Freunden. So oft bin ich nicht mit ihnen in anderen Ländern. Bitte.
Sie zeigt Dengler die Fotos.
»Das bedeutet, dass sein Telefon in Barcelona ist. Ob er es auch ist, wissen wir nicht.«
»Georg, vielleicht sind wir zu …« Sie redet jetzt schnell und eifrig: »Vielleicht sorgen wir uns ohne Grund. Es gibt einen Begriff dafür: Helikoptereltern. Hast du das schon einmal gehört? Helikoptereltern kreisen ständig über ihren Kindern. Vielleicht sind wir – Helikoptereltern.«
Dengler schüttelt den Kopf: »Wenn wir das wären, dann wüssten wir mehr von unserem Kind.« Nein, sie sind keine Helikoptereltern.
»Was ich weiß, ist: Eines Tages hat er sich geweigert, Fleisch zu essen. Morgens legte er sich keine Wurst mehr aufs Brötchen. Nur noch Marmelade. Ich machte mir Sorgen. Jeder Mensch braucht Fleisch. Wegen des Eisens und der Vitamine. Ich habe ihn gezwungen, jeden Tag mindestens eine Scheibe Wurst zu essen. Es war fürchterlich. Jeden Morgen. Jeden Morgen ein neuer Kampf. Wegen einer Scheibe Wurst. Spätfolgen der Pubertät, dachte ich. Da muss ich durch. Da muss er auch durch. Mir ging es nur darum, dass er eine ausgewogene Ernährung bekommt. Gerade als alleinerziehende Mutter will man doch, dass es dem Kind an nichts fehlt. Darum habe ich …«
Dengler hört nicht mehr zu. Er sieht die Frau an, die er einmal geliebt hat, und es ist, als würde er einen Film zum zweiten Mal sehen. Jetzt kennt er die Figuren. Er weiß, wie alles enden wird. Keine Überraschungen mehr. Keine Aufgeregtheit mehr. Jetzt sieht er nur einige Details deutlicher als vorher, bei einigen Szenen weiß er jetzt, welches Drama sie vorbereiten.
Damals hatte er keine Ahnung. Er war ein junger Beamter beim BKA , aktiv, voller Tatendrang, beschenkt mit dem unschlagbaren Idealismus derer, die die Welt verbessern wollten. Heal the world. Make it a better place , wie es in einem dieser Songs hieß, die sie damals alle hörten. Seine Freunde waren genauso wie er. Aber in der Behörde gab es nicht so viele, die genauso dachten. Er wurde von Dr. Schweikert gefördert. Seinem Chef gefiel dieser Elan. Marlies, damals Schweikerts Sekretärin, gefiel das auch. Sie hatten eine gute Zeit zusammen. Immer wenn Norbert, ihr Mann, auf Reisen war, und das war er als Kriminaloberrat oft, rief sie ihn an, und er schlüpfte in Marlies’ Bett. In Marlies’ und Norberts Bett.
Norbert war ein Polizist, wie er es nie werden wollte. Steif, bürokratisch, mit den besten Verbindungen nach oben, immer in Anzug, weißem Hemd und Krawatte. Meist in Dienstbesprechungen, selten vor Ort. Dengler sah ihn manchmal durch den Glasübergang zwischen den beiden großen Bauten des Amtes hasten, immer in Eile, immer mit Akten unter dem Arm. Nicht ohne Grund nannten die Ermittler diesen Übergang »Beamtenlaufbahn«. Das war Norberts Revier.
»Wir machen Sachen, die kann Norbert sich nicht einmal in seiner kühnsten Phantasie ausmalen«, sagte Marlies zu ihm, als sie erschöpft in ihrem Bett lagen.
Ihm gefiel die Affäre mit Marlies. Sie hatte etwas Verruchtes, etwas Geheimnisvolles – und Marlies war eine Kanone im Bett. Doch nach anderthalb Jahren wurde ihm bewusst, wie oft er allein in seiner Zweizimmerwohnung saß. Es störte ihn plötzlich, dass er sie nicht anrufen konnte, wenn er ihre Stimme hören wollte. Es ging ihm zunehmend auf die Nerven, dass sein Sexualleben von Norberts Reiseplänen abhing. Eine Missstimmung entstand. Klein, aber hartnäckig.
Dann traf er Hildegard. Es war auf der Gartenparty eines Kollegen, der ein Haus in Gau-Algesheim gebaut hatte, drüben auf der anderen Seite des Rheins. Es wurde gegrillt, Bier und Riesling getrunken, und Dengler konnte die Augen nicht von der schlanken blonden Frau lassen, die eine Freundin der Gastgeberin war. Es dauerte zwei Stunden, bis er es wagte, ihr Glas nachzufüllen. Man kam ins Gespräch, es war ganz leicht. Und plötzlich dachte Dengler, dass er diese Frau schon lange kennen müsste. Sie kannten dieselben Filme, sie mochte Blues wie er, sie war wie er in einem kleinen Ort aufgewachsen. Alles schien sich zu fügen. Sie saßen den ganzen Abend im Garten seines Kollegen und beachteten weder die anderen Gäste noch deren vielsagenden Blicke.
Er brachte sie nach Hause, und sie küssten sich an ihrer Haustür. Es waren die Küsse von Liebenden, die sich endlich gefunden hatten. Als sie sich zum
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