Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
der etwas heruntergekommene Klinkerbau mit den zugezogenen Fenstern. Fünf Namenschilder an der Tür, obwohl, das weiß er genau, hier mindestens fünfzehn Landsleute wohnen. Er klopft, eine Frau macht auf, und er tritt ein.
Sie sieht ihn an und versteht alles. Wortlos dreht sie sich um, und er folgt ihr durch den dunklen Flur ins Innere.
Sie bringt ihn zu Jurgis Rudkus, dem Letten, der in einem hinteren Raum auf der unteren Fläche eines doppelstöckigen Bettes sitzt. Andere Männer liegen in weiteren Doppelstockbetten, mit denen der Raum vollständig zugestellt ist. Es ist schummriggrau in dem Zimmer. Es dauert eine Weile, bis sich Kimis Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben.
Er kennt Jurgis. Sie haben einige Wochen lang in derselben Rinderfabrik gearbeitet. Das muss schon einige Wochen her sein. Das war, als sein Trupp zu den Rumänen gehörte und noch nicht von den Wikingern übernommen worden war.
Jurgis ist ein junger Mann, groß und breit wie ein Schrank, mit einem kindlichen Gesicht. Er strahlt diese eigentümliche Kombination von Gutmütigkeit und Stärke aus. Er hat immer mit voller Kraft gearbeitet, als mache das Fließband ihm nichts aus.
Jurgis spricht kein Rumänisch. Kimi kein Lettisch. Jurgis winkt einen zweiten Mann herbei, der übersetzt. Die beiden reden Russisch miteinander. Alle haben von dem Überfall gehört. Es gab einen Kampf zwischen den Rumänen und den Deutschen. Adrian liegt im Krankenhaus. Das sagen sie ihm. Kimi will wissen, für welche Gruppe Juris und die Männer hier arbeiten.
Für die Rumänen. Aber die seien gerade sehr nervös. Die Deutschen wollen sie aus dem Geschäft treiben.
Kimi will wissen, wo er die Landsleute findet. Sie schulden ihm Geld. Ohne das Geld kann er nicht nach Hause fahren.
Jurgis sagt: Nach Hause wollen wir alle. Er zieht eine verbeulte Ledertasche unter dem Bett hervor und zeigt ihm ein Foto. Ein blondes Mädchen, fast noch ein Kind, blickt mit großen Augen aus dem Bild. Das ist Jurgis Verlobte, übersetzt der Mann. Jurgis sagt noch etwas auf Lettisch. Es ist ein Anblick, der ihm wehtut, sagt der Übersetzer.
Die Frau, die ihm die Türe geöffnet hat kommt herein und legt eine Hose, Unterwäsche, ein Hemd, einen Pullover und eine grobe Jacke aus braunem Kunststoff neben ihn. Kimi wehrt ab. Nimm es, sagt der Übersetzer, wir alle wissen, was mit euch geschehen ist. Nimm es, wir geben es dir gerne. Ich zeige dir etwas, hier im Haus gibt es eine Dusche. Wir haben auch etwas zum Essen für dich.
Eine Stunde später bringt ihn der Dolmetscher zur Tür. Kimi ist fast glücklich. Die Dusche, der starke Kaffee, den die Frau für ihn gebrüht hat, den Topf mit Ciorbg , der plötzlich auf dem Tisch stand, die Krautwickel mit Polenta, die der Übersetzer beisteuert, das Poftg bunag , das die Landsleute ihm wünschten – all das hat ihm Mut und Kraft und Hoffnung gegeben. Er umarmt zum Abschied jeden der Männer, und die Frau küsst er zweimal auf die rechte Wange.
Der Dolmetscher legt ihm die Hand auf die Schulter. »Du weißt jetzt, wo du unsere Landsleute in den großen schwarzen Limousinen findest.« Es ist nur zwei Dörfer weiter. Er hat alles genau auf einem Blatt aufgezeichnet.
So tritt Kimi hinaus in das flache Land im Norden, das so ruhig und friedlich daliegt, aber für ihn so gefährlich ist wie der Dschungel.
38. Stuttgart, Hildegards Wohnung, vormittags
»Jakob ist Ermittler bei einer Tierrechtsorganisation, dem Verein ›Menschen für Tiere‹. Wusstest du das?«
Hildegard sieht ihn verständnislos an: »Ermittler?«
Dann: »So wie du?«
Sie kichert hysterisch. »Er will wie sein Vater werden. Wie absurd.« Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Nicht wie ich. Er dringt in Ställe ein und dokumentiert das Leben und Sterben der Tiere mit einer Videokamera. Wusstest du das? Es ist das Star-Ermittlerteam des Vereins: Jakob sorgt für die Planung und Technik, Simon ist der Chef, Cem ist der, der sich als rumänischer Migrant in die Firmen einschleicht und versteckte Kameras anbringt. Laura ist die Seele des Teams.«
Hildegard starrt ihn an. Sie hat Urlaub eingereicht. Für den heutigen Tag und die nächsten Tage. Am Morgen noch ist sie ins Büro gefahren, aber sie dachte nicht an die Angebote und Aufträge, die sie zu kontrollieren hatte, sie dachte an ihren Sohn. Sie rief ihn an, aber er nahm nicht ab. Sie schickte ihm eine SMS :
Ich bin krank vor Sorge. Bitte melde dich.
Er schickte ihr Fotos vom Meer, von den Ramblas,
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