Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
Bestellung auf zwei.
Erstaunlich schnell brachte der Kellner die beiden Schnitzel. Cem stand plötzlich Schweiß auf der Stirn.
Simon lachte. »Gleich öffnet sich der Himmel, und Allah sendet Blitz und Donner auf seinen ungehorsamen Diener Cem.«
»Bestimmt. So etwas in der Art. Bestimmt passiert so etwas.«
Simon schnitt ein Stück ab und führte die Gabel mit einem eleganten Schwung zum Mund. »Los, iss!«, sagte er.
Angewidert sah Cem auf den Teller. Mit einer unendlichen Kraftanstrengung hob er Messer und Gabel. Ließ die Gabel wieder fallen. »Ich bring das nicht.«
»Sei doch froh«, sagte Laura.
»Ich fühl mich, als ob ich ein Verbrechen begehe. Ein sehr schweres Verbrechen.«
Wieder hebt er die Gabel. Es sieht aus, als würde eine unsichtbare Macht versuchen, seinen Arm auf den Tisch zu drücken. Mit aller Kraft drückt Cem die Gabel gegen die Gewichte seines Gewissens, die Pupillen geweitet und stier auf die Gabel gerichtet, das Gesicht schweißnass. Jakob und Simon beobachten ihn fasziniert. Selbst Laura kann den Blick nicht von dem Jungen wenden, dem nun die Muskeln des Oberarms zu flattern beginnen. Doch Zentimeter für Zentimeter nähert sich das Fleischstückchen Cems Mund. Wie in Zeitlupe öffnet er ihn, und seine Freunde sehen, wie er vorsichtig das Stück Schweinefleisch auf der Zunge ablegt. Jakob dreht den Oberkörper ein Stück nach rechts, weil er befürchtet, dass Cem das Fleischstückchen gleich ausspuckt und ihn damit trifft. So sitzt Cem einen Augenblick da, die Nase gerümpft, sodass sich rechts und links kleine Falten in dem ansonsten glatten Gesicht bilden, die Augen weit aufgerissen, und die Augenbrauen hochgezogen.
»So muss ich ausgesehen haben, als ich als Zehnjährige als Mutprobe einen Regenwurm gegessen habe«, flüstert Laura.
Dann schließt er den Mund und kaut, atemlos beobachtet von seinen Freunden, schneidet sich noch ein Stück ab, schiebt es in den Mund, kaut, schluckt, schneidet sich noch ein Stück ab.
Und grinst.
»Hey, ich esse Schweinefleisch! Wahnsinn.«
Cem lacht jetzt übers ganze Gesicht, schneidet noch ein Stück ab und kaut, schneidet und kaut. Das Lachen verschwindet plötzlich aus seinem Gesicht, und seine Freunde können fast mitempfinden, wie eine kleine Welle sich von seinem Bauch durch die Speiseröhre nach oben drängt. Cem sitzt völlig unbeweglich am Tisch. Jakob denkt, dass er in diesem Augenblick den bitteren Geschmack von Magensäure im Mund spüren muss. Cem wirft plötzlich Gabel und Messer auf den Tisch, hält sich die Hand vor den Mund. Erstaunt sieht er seine Freunde an. Dann rennt er mit großen Schritten zur Toilette.
»Schade, dass es nicht allen Fleischfressern so geht«, sagt Simon und schiebt seinen Teller beiseite.
Der Kellner hatte die Teller schon abgeräumt, als Cem wieder zurückkam. Er setzte sich an den Tisch, als sei nichts gewesen. »Ich höre jetzt zu, ohne etwas zu sagen.«
Laura beugte sich vor und sagt: »Also …«
Als sie sich eine halbe Stunde später zufrieden in ihrem Sitz zurücklehnte, wusste sie schon, dass sie Cem gewonnen hatte. Er hatte ihr aufmerksam zugehört, Quatsch: Er hing an ihren Lippen.
»Wow, da habt ihr echt lange nachgedacht. Tierschutz – wäre ich von allein nicht drauf gekommen.«
Er streckte seine Hand aus, und die anderen drei schlugen ein.
41. Stuttgart, Denglers Büro, vormittags
»Georg? Georg Dengler?«
»Ich bin’s.«
»Mein Gott, Georg. Ist das lange her …«
»Das ist es, Marlies. Ich brauche deine Hilfe. Dringend.«
»Was ist los?«
»Mein Sohn.«
42. Stuttgart, Wohnzimmer Familie Trapp, vormittags
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ihre Frau …, äh, Exfrau, ich meine Hildegard, kenne ich schon lange, viele Jahre. Ich war Elternvertreterin an der Schule, und sie war meine Stellvertreterin. Und Ihr Sohn …, ich meine Jakob, ist ein Freund unserer Familie. Er geht bei uns ein und aus. Wir haben ihn gerne hier. Er ist ein nachdenklicher junger Mann. Laura und Jakob, nun ja, sie sind seit ein oder zwei Jahren enge Freunde.«
Lauras Mutter ist etwa fünfzig, vielleicht auch erst Ende Vierzig. Eine hochgewachsene Frau, in einem langen ockerfarbenen Kleid aus irgendeinem Naturstoff, Leinen wahrscheinlich. Sie trägt flache weiße Schuhe – und außer einem schlichten goldenen Ehering und einer langen Kette mit wuchtigen, polierten Holzkugeln keinen weiteren Schmuck. Haarfarbe blond, oder besser gesagt: messingfarben, vielleicht gefärbt, schulterlang, jetzt mit
Weitere Kostenlose Bücher