Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
und quiekte. Es wollte fliehen, aber zehn, zwölf Hände hielten es fest.
Was geschah dann? Er sieht, wie er mit Onkel Albert hinter dem Schwein stand, die Frauen hatten schon die Messer in der Hand, und irgendjemand hatte vorne, vor dem Schwein, das Bolzenschussgerät in der Hand und hob es an den Kopf der Sau. Da hatte Onkel Albert seine kleine Hand in seine Pranke genommen. »So, steck mal den Zeigefinger raus.« Das hatte er gemacht, die Hand zu einer Kinderfaust geballt, nur der Zeigefinger stand geradewinklig ab. Onkel Albert hob das Ringelschwänzchen des Schweins mit der linken Hand, mit der rechten nahm er seinen Zeigefinger und stieß ihn mit einem Ruck in den After des Tieres. Schwein und Kind erschraken beide, das Tier nur kurz, denn da knallte das Bolzenschussgerät. Plötzlich griff der Schließmuskel des Tieres nach seinem Finger und drückte ihn, als wolle das sterbende Tier ihn nie mehr loslassen.
Alle sahen ihn an und lachten. Die Männer und die Frauen. Alle lachten. Da fing er an zu weinen, aber niemand tröstete ihn. Jeder hatte zu tun. Der Nachbar schnitt den Bauch auf, und die Mutter sammelte das Blut in dem bereitstehenden Bottich. Komm rühr um, rief sie ihm zu. Aber er lief weg, Tränen in den Augen.
Lange her, das alles. Er hatte es verdrängt. Viele Jahre lang. Jetzt fällt ihm alles wieder ein, als er die erstaunliche Ausarbeitung seines Sohnes liest. Warum habe ich ihm diese Geschichte nie erzählt?
Diese Krankheiten sind die unvermeidliche Folge von Massentierhaltung und mangelnder Stallhygiene. Die Schweine stehen ihr Leben lang auf Spaltenböden. Kot und Urin fließen und fallen in darunterliegende Reservoirs. Der Landwirt braucht nicht mehr auszumisten. Doch die Tiere leben Tag und Nacht damit, dass sich wenige Zentimeter unter ihrem Rüssel die Exkremente befinden, deren Ausdünstungen sie Tag und Nacht einatmen. Die Zeitschrift »Großtierpraxis« (4/2013) schreibt: »Beeinträchtigung der Gesundheit und Leistung der Tiere sind vor allem auf die konzentrationsabhängige Reizung und Ätzung der Schleimhäute, der Atemwege und der Augen zurückzuführen. Die Reizung der Schleimhäute führt zu Mikroläsionen, die (…) Erregern als Eintrittspforte dienen können.«
Mit diesen Dingen beschäftigt sich mein Sohn.
Ist das eine Spur für sein Verschwinden?
Ein Motiv? Ein Motiv wofür?
Wahrscheinlich bereiten Jakob, Laura und Simon irgendeine verrückte Tierschutzaktion in Barcelona vor.
»Komm ins Bett«, sagt Olga.
Vierter Tag
Mittwoch, 22. Mai 2013
51. Stuttgart, Olgas Schlafzimmer, nachts
Diesmal sitzt Jakob auf dem Rücksitz der gepanzerten Limousine, gekleidet wie der Banker. Er flegelt sich in den Sitz, sodass Dengler ihm ein paar ermahnende Worte zurufen will. Er sitzt in dem Wagen des Begleitschutzes, als ihm bewusst wird, dass der Wagen mit Jakob in die Sprengfalle fahren wird. Er lässt sich aus dem fahrenden Wagen fallen und rennt zurück. Er rennt und rennt, rennt um die Ecken an gutbürgerlichen Villen vorbei, rennt Passanten um, rennt die Allee hinauf und sieht schon den Konvoi und sieht gleichzeitig, dass er es nicht mehr schafft, dass er zu spät kommt, dass er seinen Sohn nicht retten kann.
»Nein!« Er schreit, so laut er kann, läuft mitten auf die Straße und winkt und schreit und winkt und schreit.
»Georg, alles ist gut. Du bist bei mir.« Olga hat die Arme um ihn geschlungen. Sie streichelt sein Gesicht, es ist schweißnass.
Die Dämonen ziehen sich zurück. Er kann den Traum verlassen.
»Georg, deine Albträume werden immer schlimmer.« Sie wischt ihm die Stirn mit ihrem Kopfkissen ab. »Ich dachte, du wirst gar nicht mehr wach. So verwachsen warst du mit deinem Traum.«
Er versucht, ihr den Traum zu erklären, und merkt, wie er doch nur dumme, zusammenhanglose Wörter vor sich hinplappert – BKA , Bombe, Jakob, Schuld, zu langsam. Immer noch hebt und senkt sich sein Brustkorb schwer. Jeder Atemzug schmerzt.
»Diese Sache frisst dich auf. Irgendwann musst du sie in Ordnung bringen.«
»Ich muss Jakob finden.«
Er richtet sich auf und stellt ein Bein auf den Boden.
»Bleib bei mir. Und sprich mit mir.«
Er schmiegt sich an sie. »Ich will diese Albträume nicht mehr.«
»Wir suchen jetzt erst einmal deinen Sohn.«
Olga flüstert ihm etwas ins Ohr, was er schon nicht mehr versteht, denn jetzt erlöst ihn der Schlaf. Olga zieht vorsichtig die Decke über ihn und steht auf.
52. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
Wieder schlafen
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