Ambient 02 - Heidern
das zu glauben sich lohnte? Vor diesem Schritt, an etwas zu glauben, haben so viele Menschen Angst. Dabei meine ich das gar nicht in einem spezifisch religiösen Kontext, bloß, daß man sich an etwas verschwenden könnte, an etwas hingeben, das größer ist als der einzelne und das Alltagsgewusel. Wir scheinen vereist, gelähmt, nicht wirklich lebendig.
Diese soziale Entfremdung existiert seit mehr als einem Jahrhundert, begann vielleicht mit den Romantikern. Man empfindet sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft, nicht mehr Teil ihres Eigenlebens, sondern als Getriebener, als Blättchen im sozialen Sturmwind. Wie schafft man sich einen Platz in der Gesellschaft, ohne sich als Individuum zu korrumpieren? Korrumpiertheit heißt hier, daß man ignoriert, was man, nein, nicht fühlt, was am besten sei, sondern daß man ignoriert, was man glaubt, was man tun möchte, was man lieber als alles andere tun möchte. Führen Sie lieber ein schändlich trauriges Leben als ein erfülltes, frohes, nur weil es vielleicht ein wenig einfacher und angenehmer ist? Wie darauf antworten? Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um? Lebt man nämlich in diesem Grad der Entfremdung von der Gesellschaft, dann entwickelt man ziemlich schnell das Gefühl, auch von den Einzelmenschen entfremdet und getrennt zu sein. Man entwickelt als Begleiterscheinung der sozialen Entfremdung eine Bindungslosigkeit in jeder Beziehung, weil man nicht mehr die Zeit hat, die Dinge anders als kurzfristig zu betrachten. Überlegungen wie »Will ich diese Menschen überhaupt kennenlernen? Will ich mit diesem Menschen beisammen sein? Und wie wird es in zehn Jahren sein?« stellt man gar nicht mehr an. Viele können ja keinen Monat mehr vorausdenken. Das kann aber auch ein Vorteil sein, im Sinne von »Die Zukunft ist ein unbeschriebenes Blatt. Alles ist möglich«. Aber nehmen Sie offene Situationen wirklich wahr, nutzen Sie sie, oder lassen Sie sich einfach treiben, bis es eines Tages einfach vorbei ist, das Leben?
F: Mehr oder weniger ist letzteres genau die Denkungsart, die viele Ihrer Figuren an den Tag legen. Für mich ist Lester McCaffrey dazu der Gegenpol. Wenn wir ihm im Buch zum ersten Mal begegnen, dann lernen wir einen Mann kennen, der sein Leben jenen gewidmet hat, die den Bodensatz der Gesellschaft bilden. Er verhilft ihnen zu einem besseren Leben. Und wenn er dann emporgespült wird bis in die Führungsriege von Dryco, dann begegnet er allem mit einer, jedenfalls auf den ersten Blick, verwunderten Naivität.
A: Auf den ersten Blick …
F: Mir schien es, diese Person des Lester diene als Kontrast zu jener Sorte Leere und Schalheit im Umgang mit dem Leben, die Dryco und seine Angestellten an den Tag legen, also die Welt von heute. So wächst Lester Macht zu, obwohl seine Kommentare und Beobachtungen, die von den anderen Figuren oft heruntergespielt werden, immer irgendwie den Kern der Sache treffen. Nur er und der Leser scheinen den Durchblick zu haben.
A: Lester kennt den Zweck seines Lebens und kann ihn akzeptieren. Innerhalb dieser Begrenzung seines Lebens bemüht er sich zu tun, was nötig ist, um diesen Zweck zu erfüllen. Wenn man weiß, daß man schreiben kann, dann setzt man sich hin und schreibt. Weiß man, daß man besser Häuser anstreicht als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, dann legt man los und pinselt Farbe auf Hauswände. Es geht nur darum, dieses persönliche Talent zu entdecken und damit zu wuchern. Indem man ein bestimmtes Anliegen akzeptiert, erweckt man vielleicht den Anschein, daß man sich treiben läßt, was stimmt, aber in einem vollständigeren Sinn als oben beschrieben als bloßes Treibgut.
Joanna ist nur Treibgut, weil sie nicht weiß, was sie von sich selbst erwarten kann. Lester gibt es bloß, um ihr zu zeigen, was zu tun ist. Er muß ihr vorleben, was es heißt zu wissen, was man in diesem Leben soll. Am Schluß des Buches hat Joanna verstanden; sie kann ihr Leben jetzt leben. Diesen Punkt hat aber nicht jedermann mitgekriegt, wenn ich so an verschiedene Besprechungen denke.
F: Freilich ist Joanna am Schluß ein starker, ein erstarkter Charakter. Fällt es Ihnen eigentlich schwerer, eine glaubwürdige Frau als einen glaubwürdigen Mann zu Papier zu bringen?
A: Nein. Der Erzähler in ›Elvissey‹ ist eine Frau. Der Erzähler in ›Zufällige Akte sinnloser Gewalt‹ ist ein 12jähriges Mädchen. Schwierigkeiten hatte ich mit keiner. Und Joanna? Sie frißt vieles in ihrem Leben in sich
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