Ambient 02 - Heidern
nachdem die Wachen es bis zu ihnen geschafft hatten. Er wollte sie heute nachmittag treffen. Morgen wolle er zurück fliegen, weil es um den Flughafen herum relativ ruhig geworden sei. »Er sagt, alles sehe im Fernsehen schlimmer aus, als es ist, aber so ist das mit allem«, sagte Mama.
Die wirklich großen Neuigkeiten stammen allerdings von hier, Anne. Ich fasse es nicht. Beim Mittagessen erzählte mir Whitney, sie sei heute im Büro der Schule gewesen. Lori sei hereingekommen und direkt ins Zimmer der Taylor gegangen. Nach kurzer Zeit sei sie wieder herausgerannt und habe das Gebäude verlassen.
Als ich dann am Nachmittag nach Hause kam, fragte mich Mama als erstes, noch bevor sie von Pappi in Los Angeles erzählte: »O Liebling, hast du vielleicht Lori gesehen oder etwas von ihr gehört?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Frau Taylor hat heute morgen Loris Mutter angerufen und ihr mitgeteilt, daß Lori suspendiert wird. Jetzt ist Lori nicht nach Hause gekommen.«
»Warum fliegt sie von der Schule?«
»Sie wollte besonders schlau sein. Gestern war sie doch nicht in der Schule, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Heute früh tauchte sie bei Frau Taylor auf und gab ihr ein Entschuldigungsschreiben, eine Fälschung, nicht einmal eine besonders gute, wie es scheint. Sie wurde sofort suspendiert. Lori ging aber nicht heim, und jetzt weiß niemand, wo sie sein könnte.«
»Steckt Lori in Schwierigkeiten?«
»In den allergrößten«, sagte Mama, und ihre Augen waren so geweitet wie die meinen.
Also, Anne, wenn man Schule schwänzt, sollte man vorher schon ein paar Gedanken daran verschwenden, wie sie einen dabei nicht erwischen. Lori hat sich sicherlich eingebildet, daß sie nachgedacht hat, aber das war ja wohl nichts. Und jedesmal, wenn sie bei etwas erwischt wird, lügt sie. Dabei ist sie die schlechteste Lügnerin der Welt. Ich habe noch nie Schule geschwänzt. Ich wüßte auch nicht, warum. Aber wenn ich es einmal tun sollte, dann würden sie mich nicht kriegen. Mir glauben sie an der Schule sogar, wenn ich flunkere, aber Lori glauben sie nicht einmal, wenn sie die Wahrheit sagt.
Jetzt weiß also keiner, wo Lori steckt. Ich rief Tanya und Susie an. Whitney hatte ihnen bereits gesteckt, was los ist, aber beide wußten nicht, wo Lori abgeblieben ist. Vielleicht ist sie ja schon daheim. Hoffentlich ist ihr nichts passiert, man weiß ja nie. Wie Mama immer sagt, es ist schon verwunderlich, wieviele Perverse dort draußen auf zarte Gänschen wie uns lauern. Sie war höchstwahrscheinlich bei Simon, wenn sie ihn finden und ihn sich krallen konnte.
Boob war heute wieder in der Schule, und sie haben ihr die Spritze verpaßt. Ihre blauen Flecken sind doppelt so groß wie meine, dazu noch geschwollen. Sie ist so ein Baby. »Dein Arm wird dir bestimmt abfallen«, sagte ich zu ihr.
»Hör auf damit. Es tut eh weh.«
»Die Schmerzen lassen nach, wenn der Wundbrand einsetzt. Danach verfärbt sich alles schwarz und fällt einfach ab, außer man stirbt vorher.«
»Hör auf!« schrie sie und hörte mit ihrem Geheule auf. Da hörte ich auch auf. Gottseidank ist die Schwellung inzwischen abgeklungen, weil wir andernfalls ewig davon gehört hätten. Wir hätten ihr wahrscheinlich den Arm amputieren müssen, weil sie uns angefleht hätte, bis wir nachgeben.
Den ganzen Abend über riefen Geldeintreiber an. Nach ihrem letzten Anruf blickte Mama sehr traurig drein. »Waren sie fies zu dir?«
»Ja, Liebes, aber dafür werden sie bezahlt. Das ist ja nicht persönlich gemeint.«
»Wieso nicht?« Wenn zu mir jemand etwas Fieses sagen würde, dann ließe ich ihn nicht ungeschoren davonkommen, soviel ist sicher. Aber sie hat nur den Kopf geschüttelt.
Heute abend lernte ich noch Sozialkunde und wie die Regierung funktioniert, obwohl ja alle sagen, daß sie das gar nicht mehr tue. Ich habe schon seit langem nicht mehr gebetet, aber heute habe ich für Lori gebetet. Gute Nacht, Anne.
12. März
Nachdem ich dir gestern nacht geschrieben habe, ging ich ins Bett. Etwa eine Stunde später weckte mich Lärm von der Straße. Ich stand auf und ging ans Fenster. Eine große Gang Straßenkinder rannte die 86. Straße hinunter, verfolgt von Polizisten und Streifenwagen. An der Lexington sind sie nach Norden abgebogen. Dort zertrümmerten sie die Scheiben des HMV-Ladens und rissen die Zeitungskästen vor dem Kino um. Die Polizei blieb ihnen auf den Fersen, und sie werden wohl auch einige erwischt haben, obwohl nichts in den Nachrichten kam.
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