Ambient 02 - Heidern
Prinzessin abzuwaschen. Sie behauptet, sie habe Tuberkulose, weil sie oft husten muß. Aber bis jetzt sind erst zehn Mädchen auf der ganzen Brearly damit angesteckt worden, alle davon in höheren Klassen. Nachdem sich Mama von Chrissies Anruf erholt hatte, lief sie zu Boob ins Zimmer und es ging »Liebling hier, Liebling da« und »Noch hast du kein Fieber, aber vielleicht bald, meine süßer, süßer Schatz«. Sofort hat Boob noch lauter gehustet. »Ich kann es fühlen. Es ist Beri Beri.« Bitte! Soviel für heute, liebe Anne.
P.S. Es ist spät, und ich muß dir noch mal schreiben, Anne. Die Vorgänge der letzten Nacht beunruhigen mich und lassen mich nicht schlafen. Also ging ich in die Küche und habe den Fernseher ohne Ton eingeschaltet. Kanal 9 hatte gerade die Tote-Babies-Stunde. So nenne ich sie. Das ist eine Infomercial-Sendung, die tote Babies in Eimern zeigt, während der Erzähler im Off über liberale, homosexuelle Babymörder schwafelt. Es ist abartig, aber man muß zuschauen, weil es so unglaublich widerwärtig ist. Da war dieses Baby, das wie ein komischer Kauz aussah, aber eine Axt in seinem Schädel hatte. Sie zeigen es so lange, daß es einem hochkommt, aber man muß dranbleiben. Mama und Pappi haben dieses Infomercial erst einmal gesehen, vorigen Monat, und konnten es nicht glauben. Mamas Schwester Chrissie spendet fortwährend für eine Stiftung, die ›Gräber der Ungeborenen‹ heißt, und besucht eine Protestveranstaltung nach der anderen. Das ist einer der Gründe, warum sie und Mama sich so wenig leiden können. Mama blickt Boob an mit ihrem ›Foeti‹ und sagt: »O Cheryl, meine liebe, kleine Boob, du wirst einmal groß sein und eine von diesen schrecklichen Personen werden, die ihre Kinder vor den Kliniken vor die Autos schubsen, genau wie Chrissie.« Und Boob erwidert immer mit einem Lachen: »Mama, ich werde niemals meine Babies töten, nur die anderer Leute.« Genau das wird sie tun.
9. März
Schon wieder Montag. Pappi ist nach Newark gefahren, als ich weg war zur Schule, um nach Los Angeles zu fliegen. Boob mit ihrer doppelseitigen, tuberkulösen Lungenentzündung ist daheim geblieben. Diese Woche Prüfungen und Schlimmeres. Eigentlich kein Problem für mich, aber so langweilig. Heute habe ich Katherine wiedergesehen, als ich mittags in die Cafeteria ging. Sie saß alleine da und las ein Buch. Mir kam es so vor, als wolle sie ihre Ruhe haben. Sie hat mir zwar zugewinkt, dann aber weitergelesen. Dann hat die Cutler sie aufgefordert, sich zu uns anderen zu setzen, weil es nicht gut sei, wenn man sich absondert, selbst wenn man lernt und eigentlich in Frieden gelassen werden will. Also ging sie zu mir herüber und setzte sich neben mich, allerdings ohne ein Wort. Auf meine Frage, wie es ihr gehe, hat sie nur genickt. Sie scheint sich heute früh nicht gekämmt zu haben. »Redest du heute nicht mit jeder?« wollte ich wissen. »Bis später!« war die Antwort, dann ging sie. Vielleicht macht sie sich Gedanken, daß die Leute, die Lori gehört haben, als sie uns ›vom anderen Ufer‹ nannte, glauben könnten, daß Lori die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht wollte sie deshalb nicht bei mir sitzen. Hoffentlich nicht.
Lori kam herein, als ich gerade ging. »Bis morgen in Algebra«, rief ich ihr zu.
»Glaub ich nicht«, hat sie geantwortet.
»Warum?«
»Ich komme morgen nicht. Es ist alles klar. Die Taylor weiß schon Bescheid.«
»Wieso kommst du nicht?«
»Ich hab zu tun«, sagte Lori und lächelte. Mehr wollte sie nicht sagen. Bestimmt hat dieser Einfaltspinsel Simon damit zu tun. Wahrscheinlich schwänzen die beiden und hängen zusammen herum. Dabei beginnen nächste Woche die Frühjahrsferien. Warum wartet sie nicht bis dahin, um sich mit ihm zu treffen? Oder fährt sie mit ihren Eltern irgendwohin? Wenn sie schwänzt, wird sie wieder erwischt. Anne, da bin ich mir so sicher. Als sie es das letzte Mal probiert hat, fälschte sie die Handschrift ihrer Mutter, buchstabierte aber jedes zweite Wort falsch; darum fiel die Taylor nicht darauf herein. Was sie der Taylor bloß diesmal erzählt hat?
Nach dem Unterricht erhielten wir alle wegen des Drecks, der als Folge der Long-Island-Sache im Fluß herumschwimmt, Cholera-Schutzimpfungen. Brearly liegt direkt am East River, nur der FDR-Highway trennt uns vom Wasser. Wenn wir über den Fluß schauen, sehen wir den Rauch und die Helikopter. Mein Arm brennt jetzt noch wie Feuer. Zwei Mädchen aus der Zehnten sind krank geworden,
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