Ambra
durchschauten, rieben sich die Nasen und waren ratlos. Einzig Tilmann Kröger saß mit verschränkten Armen da und hatte sich nicht täuschen lassen. Lächelnd schüttelte er seinen Kopf, während er eine Frau betrachtete, die sich mit einem Notizheft Luft zufächelte, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Kinga neben ihm schien kaum noch etwas von der Vorführung zu registrieren, so beschäftigt war sie damit, an ihren Fingernägeln zu kauen und auf den Fußboden vor sich zu stieren. Als das Publikum endlich anfing zu applaudieren, schaute sie hoch und klatschte ein paar Mal in die Hände. Dabei blickte sie an der Bühne vorbei zum Seiteneingang. Es war offensichtlich: Nicht das Publikum war es, das Kinga unter Druck setzte, oder die Aussicht, gleich selber auftreten zu müssen, sondern einzig die Tatsache, dass sie es nicht erwarten konnte, Renias Auftritt zu erleben. Besorgt sah sie aus, wie sie dasaß, ganz, als ob sie wirklich um Renias geistige Gesundheit fürchten würde, als ob sie nicht verstanden hätte, dass Renia auf der Bühne eine Rolle spielte, die Teil der Show war.
Tilmann Kröger beugte sich vor und tippte sie an. Kinga zuckte zusammen, nahm dann aber die Hand, die Kröger ihr reichte, und schüttelte sie. Für einen Moment sah es so aus, als wolle sie etwas sagen, dann aber begnügte sie sich mit einem Nicken. Ihr Kopf drehte sich wieder zur Bühne, wo Mario sich umständlich über das Haar strich, das kleine Tischchen wegräumte und an dessen Stelle einen dicken Perserteppich auf der Bühne ausbreitete. Als er sie verlassen hatte und sich endlich – nach einer kurzen Ankündigung Mayas – die Seitentür öffnete, beugte Kinga sich so weit vor, dass sie beinahe aus dem Sessel gefallen wäre.
Zuerst sah man nur einen Schatten, dann das schwerfällige Etwas selber, das sich hin zur Bühne schleppte. Barfuß war die Person, die da ging, ein dunkles, sackartiges Kleid trug und mit glasigem Blick die Bühne abtastete. Renia.
Die gealterte, träge Person, um die es sich dort handelte, war auf keinen Fall Renia. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Von diesem Clou hatte mir niemand erzählt: dass man Renia hinter der Bühne austauschte, einfach jemand anderes hinausschickte und das Publikum glauben ließ, es sei immer dieselbe, die auftrat. Was im Grunde sehr vernünftig war, dachte ich: Bei so vielen Vorstellungen, die Renia in letzter Zeit im Collegium gegeben hatte, müsste sie sich schon längst verausgabt haben, aber dieseWendung erklärte ihre noch immer einigermaßen gute Verfassung.
Natürlich hatte sich die Frau auf der Bühne Renias Kleid angezogen, damit es ganz so aussah, als handele es sich wirklich um die Frau, die vorher noch mit ein paar Gästen aus dem Publikum geplaudert hatte. Selbstverständlich hatte auch sie lange, braune Haare, war schlank, fast mager – aber dieses Gesicht gehörte einem anderen, viel älteren Menschen. In die blasse, ölig glänzende Haut hatten sich Falten gegraben, die Augenbrauen waren eng zusammengezogen, der Mund merkwürdig verzerrt.
Das ist doch nicht Renia, sagte ich zu Kröger, der sich auf einen für die Künstler frei gehaltenen Sessel gesetzt hatte. Renia hatte mich vorgewarnt, dass ich ihn wohl früher oder später im Varieté antreffen würde – in einer Kneipe hatte er Mayas Bekanntschaft gemacht und war schließlich geladener Gast des Varietés geworden. Diese Stadt, Kinga, hatte sie gesagt, ist so klein, dass man irgendwann jeden Bewohner doppelt und dreifach kennt. Kröger nickte energisch, als wolle er meinen Gedankengang bestätigen.
Doch, doch, sagte er. Es ist ganz erstaunlich, nicht wahr? Ganz große Schauspielkunst. Sie wirkt völlig weggetreten. Wenn man es nicht besser wüsste …
Merkwürdig begriffsstutzig kam er mir vor, aber bevor ich ihm klarmachen konnte, dass Renia wohl kaum schauspielerte, wenn sie auftrat, öffnete die Person auf der Bühne ihren Mund, und Renias Stimme erklang. Etwas kraftlos und monoton, aber es war einwandfrei Renias Stimme, und wenigstens in diesem Punkt hatte Kröger also recht gehabt.
Renia räusperte sich und sagte, dass man sie vor derVorstellung gebeten habe, ein kürzlich verstorbenes Mütterchen herzuholen. Diesem Wunsch würde sie versuchen zu entsprechen.
Ganz still war es im Zuschauerraum geworden, niemand hustete mehr, niemand schnäuzte sich, keiner scharrte mehr mit den Füßen oder schrieb mit nervtötend kratzendem Kugelschreiber in sein Notizbuch. Alle Aufmerksamkeit war
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