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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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der alles Leben in Häuser, Cafés, Geschäfte und Salons verbannte.
    Zwei frierende Touristen drängten sich auf der Brücke über dem Fluss zusammen, um ein Foto zu schießen. Das Wasser unter ihnen lag so regungslos da, als sei es aus Blei gegossen. Das Geländer der Uferpromenade, vor noch gar nicht langer Zeit Rückgrat der Fisch-, Schmalzbrot-, Edelsteinbäumchen-, Buddelflaschen- und Luftballonverkäufer, der Handleser und Kunstmaler, diente nun einzig als Befestigung für Plakate und Ankündigungen von Shows, Konzerten und Attraktionen aller Art. Für die kleinste Veranstaltung ließ sich dort ein Poster oder ein Zettel finden, der sie anpries und ihre Qualität lobte, der jedem Besucher ein Freigetränk oder zumindest eine Vergünstigung versprach, immerfort wurde etwas eröffnet, demnächst geschlossen, feierte Jubiläum oder war neu entworfen worden.
    Trotz des Windes, der jetzt aufgekommen war, entschieden sich die zwei Touristen für einen Spaziergang die Uferpromenade hinunter. Vor einigen Plakaten blieben sie stehen, griffen mit eisigen Fingern nach Abreißzettelchen und eilten weiter. Was sie nicht wussten und nicht wissen konnten: In der Stadt gab es zu jener Zeitnur eine einzige sehenswerte Show, und ausgerechnet die sah von jeder Form der Werbung ab. Kein Plakat, kein Handzettel, auf dem jemals gestanden hätte, dass Mayas Varieté geöffnet habe und seine Artisten präsentierte, kein Wort von dem Spielort zwischen Stadtmauer und Schnellstraße, nein.
    Das war Teil des Geschäftskonzepts: das
Collegium Obscurum
, wie sich das Varieté etwas hochtrabend nannte, war darauf angewiesen, dass die geladenen Gäste sich in einem exklusiven Rahmen wähnten, als Teil einer verschworenen Gemeinschaft, die gelegentlich zusammenkam, um etwas Ungeheuerlichem beizuwohnen. Jene Ungeheuerlichkeiten wurden von Maya sorgfältig ausgesucht und so lange mit ihren Künstlern einstudiert, dass es tatsächlich aussehen musste, als geschähe vor den Augen des Publikums etwas Übernatürliches, etwas, das sie Mal um Mal eine dreistellige Summe entrichten ließ.
    Kingas Mitbewohnerin Renia gehörte zum festen Kern des Ensembles, ihre Darbietung war unbestritten der Höhepunkt jedes Abends. Mit ihrem zarten, langen Hals und ihrer filigranen Figur hätte sie zwar auch als Schauspielerin oder Balletttänzerin des Stadttheaters arbeiten können, aber mit der verblüffenden Darstellung eines Mediums in Trance verdiente sie wohl mehr, als jeder Theaterschauspieler sich je erhoffen könnte.
    Der feste Kern des Künstlerensembles wurde dann und wann ergänzt von Gästen, deren Auftritte die Show abwechslungsreich und unvorhersehbar machten. Hätte es eine bessere Möglichkeit für Kinga geben können, in der Stadt zu bleiben und Renia so nah wie möglich zu sein? Kaum dass sie erfahren hatte, wo Renia arbeitete, setzte sie alles daran, Maya davon zu überzeugen, dassauch sie schauspielerische Fähigkeiten besaß, die das Collegium bereichern würden. Hatte sie, Kinga, etwa nicht monatelang am Stadttheater einer respektablen norddeutschen Universitätsstadt gearbeitet, jeden Sommer in den Semesterferien, und hatte dort, nebenbei quasi, eine Performance entworfen, die jeden, aber auch wirklich jeden davon überzeugen musste, dass sie, Kinga, Gedanken lesen könne?
    Wie ein Wink des Schicksals musste es ihr vorgekommen sein, dass sie nun ausgerechnet mit diesem Taschenspielertrick ihren Unterhalt verdienen konnte, dass es tatsächlich jemanden zu geben schien, der bereit war, dafür Geld auszugeben. Kurze Zeit nach ihrem ersten Treffen mit Maya wurde sie eingeladen, sich eine Vorstellung im Collegium Obscurum anzusehen, und nach ein paar Proben im engen Kreis kam der Tag, an dem Kinga vor Publikum auftreten sollte.
     
    Es dämmerte bereits, als Renia und Kinga die unscheinbare Tür des Varietés passierten und kurz vor dem Vorhang stehen blieben, der den Eingangsbereich vom Zuschauerraum abschirmte. Kingas Hände krampften sich schweißnass um die Henkel der Plastiktüte, die sie mit sich trug. An diesem Abend, dachte sie, würde sich ihre nähere Zukunft entscheiden; für diese Vorstellung hatte sie nicht nur ihrem Onkel eine Abfuhr verpasst, der sie in eine der Spelunken am Hafen mitnehmen wollte, sondern auch ihrer Tante erzählt, sie habe Migräne und könne sich vorerst nicht vom Fleck bewegen. Sie konnte nicht verhehlen, dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen hatte: Tante Bronka, wie sie sie mittlerweile nannte, hatte in den

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