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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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umherzustreifen und nichts zu sehen als ödeste, einfallsloseste Wirklichkeit, Alltag, der so grau ist wie die Straßen dieser Stadt oder ihr Himmel oder das dumme Stück Papier, das man vor sich hat und das einen beinahe um den Verstand bringt, weil es zu oft nichts, rein gar nichts zu notieren gibt – solcher Art nämlich und nicht anders ist das Schicksal der Schreibenden, und kaum wagt man es, sich wenigstens während der Abende und der Nächte abzulenken, begnügt sich mit dem Einfachen, Provinziellen, das man in dieser Stadt findet, dann kommt eine Zecke wie Kinga daher und saugt einen aus, wie sie nur kann.
    Sogar Mario wieherte, dieser grobe Kerl, als ob es da etwas zu lachen gebe. Demoiselle Maya wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel, und irgendwo ging in der Ausgelassenheit ein Glas zu Bruch. Kinga stand auf und verbeugte sich, die Arme halb erhoben.

5.

    Eines Nachts vor langer Zeit wurde die Stadt am Meer vom Winter überrascht, der still und leise von Osten gekommen war und sich in die Gassen hineingestohlen hatte. Kaum dass die Bewohner am nächsten Morgen erwachten, mussten sie sich ergeben und dem Gesetz des Winters folgen, der alles Lebendige von der Erdoberfläche und hinein in den Backstein verbannte.
    Ein eidotterfarbener Spalt, durch den etwas Licht schimmerte, ein paar Kristalle, in denen sich seine Strahlen brachen. Ein Hämmern, das gedämpft ans Ohr drang, ein leises Poltern und Fluchen. Dann plötzlich der Lärm, die Stimmen dieser Stadt: ein Säuseln, ein Seufzen; ein Murmeln und Wispern, das anschwoll zu einem Choral, aus dem klar vernehmlich das Ave Maria drang; ein hastiges Anreden gegen die Kirchenglocken, die träge in der meereskalten Luft hin- und herschwangen und ihr Läuten in das Schweigen der Vögel woben.
    Im Spalt verschwanden langsam die Kristalle, das Licht drang stärker hindurch und ließ in kaum zwei Metern Entfernung das helle Fenster, einen Tisch und einen Stuhl erkennen, auf dem eine Hose und ein Hemd hingen. Konrad Mischa schob seine Daunendecke zur Seite und fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger ins Auge, um es von der Kruste zu befreien, die sich in der Kälte der Nacht zwischen den Lidern gebildet hatte. Wonur kamen all die Geräusche her? Es klang, als hätte sich die ganze Stadt unter seinem Fenster zusammengetan, um lautstark zu skandieren. Mit jedem Atemzug stieß Konrad kleine Wölkchen aus. Marians Bett war unberührt, das Kissen lag genauso aufgeschüttelt da wie am Abend zuvor, die Decke zurechtgezupft und ordentlich in der Mitte gefaltet. Konrad richtete sich auf und zog sich die Decke augenblicklich wieder über die Schultern. Ein Luftzug vom verzogenen Fensterrahmen drang herüber. Dort, auf der Glasscheibe, standen die Eisblumen in voller Blüte und bedeckten beinahe die untere Hälfte. Noch immer hatte der Lärm nicht nachgelassen. Fröstelnd stand Konrad auf, umschlang sich mit der Decke und ging stolpernd ans Fenster, wo er eine Menschenansammlung vermutete, vielleicht Kunden seines Vaters oder die Nachbarn, die aus irgendeinem Grund alle durcheinanderredeten, vielleicht war etwas geschehen, und nur er, Konrad, hatte es verschlafen.
    Sein erster Gedanke, als er hinunter auf den menschenleeren Hof blickte, war, dass er sich eventuell noch im Tiefschlaf befand und all das nur träumte. Der Hof war leer. Das Gemurmel war etwas schwächer geworden, aber noch immer deutlich vernehmbar. Vielleicht wurde er krank? Er zog die Decke zurecht, als er mit dem Handrücken gegen einen harten Gegenstand an seinem Hals stieß. Er zuckte zurück und blickte an sich herunter. Als er die Silberkette mit dem Bernsteinanhänger erkannte, erinnerte er sich wieder daran, was tags zuvor geschehen war.
     
    Alles hatte damit angefangen, dass Heinz Segenreich nicht vergessen konnte, was vor einiger Zeit bei der Hütte im Wald geschehen war, als er und Konrad sichtreffen wollten, um einen zweiten Zug der Kompanie zu gründen. Dabei hatte Konrad ihm doch zigtausend Mal erklärt, was geschehen sein musste: Sein Bruder Marian war hinter ihm her geschlichen und hatte ihm einen üblen Streich gespielt, kindisch, wie er war.
    Die Nachricht vom durchbohrten Herzen war wie ein Lauffeuer binnen kürzester Zeit durch die Kompanie und das ganze Stadtviertel gegangen. Obwohl die jungen Männer Konrad als Anführer und Ideengeber der Gruppe respektierten – auf seinen Vorschlag hin hatten sie den kleinen Stichweg hinunter zum Fluss gepflastert, seinem Engagement war

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