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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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herrschte. Eine alte Weide stand da, ein paar Bänke vor einer kleinen Wiese, und da ließ ich mich nieder, legte meinen Kopf auf die Tasche und schloss die Augen, und der letzte Gedanke, an den ich mich erinnere, war der an Dydów, an Vater und an Marek und die sich sofort darauf einstellende
Gewissheit, dass ich es lieber mit dieser Stadt aufnahm als mit dem, was mich außerhalb von ihr erwartete.
     
    Als ich wieder zu mir kam, befanden wir uns mitten im Nichts. Albina flüsterte: Mein Gott!, und Renia bekreuzigte sich. Ich machte ein paar pinguinartige Bewegungen mit meinen Armen und sah mir selber dabei zu.
    Silbrige, spiegelnde Flächen umgaben uns und reflektierten das Neonlicht, das von ein paar Röhren an der Decke ausging. Unendlich viele Albinas, Renias, Kingas und Rokas’ spiegelten sich und wurden immer kleiner, bis sie schließlich nur noch aus dunklen Flecken bestanden, die sich ineinander auflösten.
    Das ist es, sagte Rokas.
    Was?, fragte ich. Meine Kehle war trocken.
    Spiegelfolie. Eins-a-Ware. Verblüffend, nicht wahr?
    Rokas ging auf eine der spiegelnden Flächen zu, packte sie an ihrem Rand und zog sie zur Seite. Dahinter stapelten sich mehrere Konstruktionen aus Sperrholz, riesige Rechtecke, die man anscheinend beliebig ineinanderschieben und verhaken konnte. Flink kletterte er auf eine Leiter, löste die Folie aus ihrer Verankerung und ließ sie auf den Boden gleiten. Dann drückte er ein paar Schalter an der Wand, es knisterte, zischte, und schließlich wurde es auch im hinteren Teil des Raums hell. Die Lagerhalle war größer, als man vermutet hätte. Wo keine fertigen Rahmen lagerten, standen Rollen mit Spiegelfolie, und auf mehreren Tischen wurde am Rahmennachschub gearbeitet. Beide Seitenwände des Gebäudes waren beklebt mit einer Art Fototapete der Stadt, unschwer zu erkennen war die Hauptmeile der Stadt,ihr Schmuckkästlein und ganzer Stolz der Restaurateure. Rokas folgte unserem Blick.
    Das alles, sagte er, wird schneller verschwinden, als es erschienen ist.
     

    Die Werftanlagen der Stadt waren ein abgeschirmter, ein intimer Ort, an den keiner gelangte, der dort nicht ausdrücklich etwas zu suchen hatte. Als aber ausnahmsweise Tickets für eine Rundfahrt über das Gelände verkauft wurden, ergriff Brunon Mysza sofort die Chance. Kinga Mischa sollte später nicht sagen, man habe ihr ein unrealistisches, ein geschöntes Bild von diesem Land oder dieser Stadt gemalt, mit saftigen Wiesen, fröhlichen Gänsejagden und Picknicks im Grünen, nein. Die Lebensrealität in diesem Land, und vor allem in dieser Stadt, sah anders aus.
    Jahrzehntelang war Brunon Mysza tagaus, tagein auf die Werft gegangen, und wenige Schiffe hatten sie verlassen, ohne dass er Hand an sie gelegt hätte. Das und die Tatsache, dass er an den Streiks teilgenommen und sich vor keiner Demonstration gedrückt hatte, war sein ganzer Stolz.
    Leider hatten seine Augen und seine Lungen auf der Werft gelitten; und hätte es nicht die Wohnung am Wallplatz gegeben, die jeden Monat ein paar zusätzliche hundert Zƚoty an Miete abwarf, wäre die Familie, trotz Bronkas kleiner Nebeneinkünfte als Schneiderin, nicht über die Runden gekommen. Die Nachbarn und Arbeitskollegen, die davon wussten, missgönnten ihnen, was sie sich als unverdienten Geldregen aus fremden Mieteinnahmen vorstellten. Die Myszas hingegen wussten esbesser: Natürlich gehörte die Wohnung rechtmäßig ihnen, und dass Marian Mysza die Wohnung seinem deutschen Neffen Emmerich Mischa vermacht hatte, war in ihren Augen nichts als ein Zeugnis seniler Verwirrung gewesen. Emmerich jedenfalls hatte ihnen die Miete überlassen, aber eines war doch merkwürdig: Warum hatte er in seinem Testament verfügt, dass die Wohnung nicht direkt an die Myszas ging, warum musste sie erst den Umweg über seine Tochter nehmen?
    So oder so, entschied Brunon eingedenk seines verstorbenen Vaters, könne es nicht schaden, wenn man sich mit der Deutschen beschäftigte. Vielleicht würde sich das Thema eines Tages ganz natürlich erledigen, ohne dass man es erzwingen musste.
    Als schließlich, nach längerer Diskussion, Bronka und nicht Brunon Kinga anrief, schien Kinga sich zu freuen und sagte gleich zu. Das Treffen kam ihr gerade recht: Seit Tagen hatte sie keinen Auftritt mehr im Varieté gehabt, Renia, ihre Renia hatte sich zurückgezogen, und mit der Zeit war sie der Gesellschaft Albinas mehr als überdrüssig. Die Tage zogen sich endlos hin, so dass Kinga sich wünschte, in einer

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