Ambra
hätte ich ihn am liebsten umarmt und geküsst.
Aus lauter Erleichterung kaufte ich mir und einem kleinen Jungen, der in einem abgerissenen T-Shirt auf einer Mauer saß, zwei Hamburger, schweigend aßen wir sie auf und blickten unbestimmt ins Gedränge vor den Bushaltestellen. Als wir aufgegessen hatten und der Junge noch immer nichts sagte, fragte ich ihn, ob er wisse, wo ich übernachten könne, aber er schüttelte bloß den Kopf und rannte davon. Ich dachte an Großmutter und setzte mich in Bewegung, ging endlich los, über Straßen und kleine Plätze. Überall vor den Bürogebäuden standen gut gekleidete junge Menschen mit teuren Frisuren und glänzenden Ledermappen, keiner von ihnen würdigte mich auch nur eines Blickes: In meinem Aufzug, mit meiner dreckigen Tasche und diesem müden Gesicht gehörte ich zur anderen Hälfte, zu der Seite der Verlierer, die es nicht gepackt hatten, die ewig in Armut und im Scheitern verharren würden, so eine war ich in deren Augen, aber das erschrak mich nicht, das war mir egal, da war etwas anderes, Größeres, das mich umfing, das mich packte und nicht wieder losließ.
Am Anfang dachte ich, es sei die Müdigkeit, die Überspanntheit, vielleicht, aber diese Stadt schien nach mir
zu greifen: das steinerne Antlitz verzogen, überschminkt, und doch so voller Ausdruck und Wesen, dass ich erstarrte. Egal, an welchem Haus ich vorbeiging, welches Pflaster ich überquerte, die Stadt schien zu reden, überzuquellen an Geschichten und dem Leid der Menschen, aber vielleicht war ich traumatisiert, und so erging es möglicherweise traumatisierten Menschen: Überall sahen sie Leid und Elend, und wo sie kein Leid und Elend sahen, sahen sie wenigstens den Tod, der überall, auf jeder Gasse, jedem Hinterhof biwakierte und nur darauf wartete, dass man ihm in die Arme spazierte. Jeder Steinhaufen in dieser Stadt schien seine Stimme zu erheben, kein Meter des alten Pflasters, der kein Blut gesehen hatte, und überall, überall tummelten sich die Toten, traten sich gegenseitig auf die Füße, saßen auf Rinnsteinen und lehnten an Fassaden, eine Symphonie aus Angst und Erinnerung und dem verzweifelten Klammern ans Leben, nach all den Jahren: Tote, die noch nicht recht begriffen hatten, was ihnen plötzlich fehlte, ein Körper nämlich, das Leben selber, und Tote, die so leise waren, dass man sie kaum verstand, mit merkwürdigen Dialekten und Akzenten, die ganz zähen, sturen, die es nicht wahrhaben wollten, nach all den Jahrhunderten. Da waren die, die zu Unrecht hingerichtet worden waren, die Ermordeten, die plötzlich Umgekommenen. Die Menschen, so viel begriff ich nach wenigen Stunden in der Stadt, verloren nach dem Tod keine ihrer unerfreulichen Eigenschaften, abgesehen davon, dass sie weder nach Schweiß stanken noch Bier auf die Straße verschütteten so wie der Penner, der mich beobachtete, seitdem ich die Fußgängerzone betreten hatte. Um ihm zu entkommen und auch, um endlich etwas zu trinken zu kaufen – Vielleicht, dachte ich, vielleicht handelte es
sich einfach um Dehydrierung, das konnte doch passieren? –, betrat ich einen kleinen Laden in der Fußgängerzone und kaufte eine Flasche Wasser. Die Verkäuferin betrachtete mich mitleidig und reichte mir zwei Bananen, die ich sofort aufaß, ungeachtet der braunen Stellen und der Tatsache, dass ich Bananen nicht ausstehen konnte.
Was mit dieser Stadt los sei, fragte ich sie noch, bevor ich wieder hinausging, und da zog sie die Augenbrauen hoch, musterte mich eine Weile und sagte schließlich, dass diese Stadt der Wahnsinn sei, im Winter und im Sommer sowieso, und, dass ich besser auf mich aufpassen solle, hier, an diesem Ort, seien noch ganz andere als ich untergegangen, dieser Ort sei nämlich stärker als die meisten, und das sei das Problem.
Und was ist mit den Toten, fragte ich sie, aber da schien sie wütend zu werden, denn sie kräuselte ihre Stirn und scheuchte mich hinaus, keine Zeit zu plaudern hätte sie, und ich solle mich am Riemen reißen, so wie alle hier. Und da stand ich dann, draußen, auf der Straße, Leute gingen an mir vorbei und schienen nicht zu bemerken, was hier eigentlich vor sich ging, was sich wirklich auf den Straßen abspielte. Vor allem bei den Kirchen ging es hoch her, da wuselte es geradezu. Ich rannte los, fort, genug Geld für ein Hotel hatte ich ja in der Tasche, aber das kam mir in dem Moment nicht in den Sinn: ein Hotel. Ich rannte und rannte, bis ich auf einem kleinen Platz ankam, wo Ruhe
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