Ambra
etwas lebhafteren Gemeinschaft zu wohnen, mit tatkräftigen, resoluten Charakteren, die sie hätten teilhaben lassen an ihren Plänen. Vor lauter Kummer darüber, dass Renia sich so rar gemacht hatte, hatte sie sogar erwogen, von sich aus bei den Myszas vorbeizuschauen, aber bevor sie sich die Jacke hatte umwerfen können, war sie erneut in ihren Tagträumereien versunken und hatte sich nicht aus dem Bett gerührt.
Kurz vor der vereinbarten Zeit um zehn Uhr morgens war Kinga vor dem Tor der Werft angekommen, gähnteein paar Atemwölkchen in die eiskalte Luft hinein und schloss die Augen, um das leichte Schwindelgefühl zu ignorieren. Seit mehreren Tagen hatte sie nicht mehr als vier, fünf Stunden in der Nacht geschlafen, der Magen bereitete ihr Probleme, sie fühlte sich angeschlagen. Die nervösen Zustände, die immer wieder über sie kamen, seit sie die Stadt betreten hatte, machten ihr mehr und mehr zu schaffen. Selbst für Außenstehende, die nichts weiter von Kinga wussten und nichts von ihrer Arbeit ahnten, musste es befremdlich wirken, wenn Kinga zu versteinern schien oder plötzlich zusammenzuckte, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.
Noch allerdings schien alles im Rahmen zu sein, noch ließ sich alles ertragen.
Als Kinga zwei eng in ihre Mäntel geschlungene Menschen die Straße herunterkommen sah, wischte sie sich den Schlaf aus den Augen und winkte. Bronka, die ihre Hände in einen fliederfarbenen Muff gesteckt hatte, stieß Brunon den Ellbogen in die Seite, und da hob auch er die Hand und winkte ihr zu. Er trug einen gefütterten Anorak und massive Gummistiefel, als habe er geplant, nach der Führung auf der Werft zu bleiben und eine Schicht durchzuarbeiten. Die beiden wirkten ausgeschlafen, seit Stunden wach, und Bronka roch untrüglich nach Kohlrouladen, die sie schon am frühen Morgen zubereitet haben musste. Kinga schaute auf ihre Uhr: Es war punktgenau zehn Uhr. Man küsste sich auf die Wangen, Bronka tätschelte Kingas Rücken, so, wie sie es auch bei ihrer Tochter getan hätte, fragte nach der Wohnung, ob es nicht zu kalt sei und ob sie auch zurechtkämen, so ganz ohne Mann im Haus.
Kinga antwortete, es gehe ihnen ausgezeichnet, zu dritt würde es ihnen an nichts fehlen, ein Mann, sagtesie, würde bloß Unruhe stiften. Kurz dachte sie darüber nach, ob es an der Zeit sei, die Wohnungsfrage anzusprechen, dann entschloss sie sich aber, Bronka und Brunon noch etwas hinzuhalten.
Brunon hatte die Augen zusammengekniffen, als seine Frau die Wohnung erwähnte, lachte aber kurz mit, ohne begriffen zu haben, warum. Dann ging er zum Torhäuschen am Eingang, kam mit den drei vorbestellten Tickets in der Hand zurück und strahlte über das ganze Gesicht.
In zehn Minuten geht es los. Bronka, um Himmels willen, wie lange waren wir schon nicht mehr hier?
Seit Marians Tod, denke ich, seit vier, fünf Jahren. Eine Schande.
Eigentlich, so Bronka, seien sie, nachdem Brunon zum Frührentner wurde, wenigstens einmal in der Woche vorbeigekommen und hätten Blumen am Arbeiterdenkmal abgelegt. Aber seitdem sich die Pflichten auf dem Friedhof gehäuft hätten … und dann habe man um Bartosz bangen müssen, und da sei keine Zeit mehr gewesen für Ausflüge zur Werft.
Brunon nickte gedankenverloren und schaute nach oben, in den bleigrauen Himmel.
Tja. Wenn es nicht so bedeckt wäre, könnte Vater uns sicher dabei zusehen, wie wir hier herumspazieren.
Kinga verkniff sich jeden Kommentar, nickte bloß und hörte sich an, was für ein Glücksfall es sei, dass es ausgerechnet jetzt, da sie da sei, diese Rundfahrten über das Gelände der Werft gebe. Von allen Orten der Stadt sei dies der Wichtigste, hatten doch die Männer der Familie jahrzehntelang ihr Auskommen als Tischler und Schweißer gefunden, alles zusammengeschreinert und zusammengeschweißt, was ein Schiff an Holz undMetall so brauchte, Kajüten, Parkett, Fensterrahmen, Türen. Durch diesen Eingang, durch den sie gerade gingen, sei auch er, Brunon, gegangen, genau wie sein Vater, mit einem Köfferchen voll Essen und der blauen Schiebermütze auf dem Kopf. An tausend friedlichen und tausend stürmischen Tagen, an denen sie, die einfachen Arbeiter, sich verbündet hatten und aufgestanden waren gegen die Willkür der Staatsmacht. Leuten wie ihnen sei der Niedergang des Kommunismus zu verdanken. Ob sie, Kinga, das gewusst habe? Er persönlich habe den Kopf dafür hingehalten, so wie fast alle hier, damals.
Bewegte Zeiten, sagte Kinga und
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