Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
machte kehrt und rannte davon, und wir trabten hinter ihm drein. Eine dicke Staubwolke folgte uns.
Emerson hatte in einem der Felsengräber Stellung bezogen, die am Rand der Ebene lagen. Die Eingänge waren nur schwarze Vierecke im sonnendurchglühten Stein. Ein primitiver Pfad führte hinauf, und das letzte Stück mußten wir klettern. Walter bemühte sich um Evelyn, während ich die Eselstreiber mit dem Sonnenschirm abwehrte. Ich keuchte ein wenig, als ich oben ankam, aber es war weniger die Anstrengung, sondern eher eine gewisse Aufregung, die mich atemlos machte.
Die Türrahmen waren mit Reliefs bedeckt, doch für die hatte ich jetzt keine Zeit. Ich ging hinein und schaute mich um. Es war ein langer, schmaler Gang, der selbstverständlich etwas besser war als ein Zelt. Das Ende verlor sich in düsterer Dunkelheit, doch in Türnähe konnte ich ganz gut die Packkisten sehen, die als Eß und Schreibtische dienten. Zwei Feldbetten und ein paar Klappstühle waren die ganze sonstige Einrichtung. Auf einem Feldbett lag bewegungslos ein Mann.
Mich packte Entsetzen, weil ich fürchtete, wir seien zu spät gekommen. Dann bewegte sich ein Arm, und eine rauhe Stimme murmelte etwas. Ich trat zum Bett und setzte mich daneben auf den Boden.
Zu erkennen war er kaum mehr. Sein Bart hatte das Gesicht fast völlig überwuchert, die Augen waren eingesunken, und die Wangenknochen traten hervor. Er glühte vor Fieber. Sein Hemd war offen und enthüllte einen
dichten schwarzen Pelz. Bis zur Taille war er mit einem Laken zugedeckt, das sich um seine Beine gewunden hatte.
Evelyn sank neben mir auf die Knie. »Was soll ich tun, Amelia?« fragte sie.
»Tauch ein Tuch ins Wasser, Evelyn. Walter, Sie müssen dafür sorgen, daß immer reichlich Wasser da ist. Essen wird er wohl nicht wollen. Hat er Wasser getrunken?«
»Er will keines«, antwortete Walter.
»Von mir nimmt er es schon«, sagte ich und rollte die Ärmel hinauf.
Als Michael mit dem Sanitätskasten ankam, hatten wir Emerson ein wenig bequemer gebettet. Da wir ihm dauernd kalte Kompressen auf Kopf und Brust legten, war die Temperatur etwas zurückgegangen, und ein paar Tropfen Wasser hatte ich ihm auch eingegeben, natürlich unter Schwierigkeiten. Ich gab ihm eine doppelte Dosis Chinin. Dazu mußte ich mich quer auf seine Brust legen und ihm die Nase zukneifen, während Walter ihm die Arme und Evelyn die Beine festhielt. Danach schlief er ziemlich unruhig. Ich schickte Michael zum Boot, und Evelyn ging mit, um die Sachen auszuwählen, die wir für uns brauchten. Ich befahl ihr zwar, an Bord zu bleiben, doch sie weigerte sich. Also bat ich Walter, ein hübsches Grab für uns auszusuchen.
Walter war sprachlos. Er klappte nur immer wie ein Fisch den Mund auf und zu, und das sah ziemlich komisch aus. Ich drängte ihn also, für uns endlich ein Grab auszuwählen und es säubern zu lassen, damit alles in Ordnung wäre, wenn unsere Sachen ankämen.
»Hübsches Grab?« wiederholte Walter dümmlich. »Ja, ja, ein paar Gräber sind schon da in der Nähe, aber ob sie hübsch sind …?«
»Ich verstehe ja, daß Sie sich Sorgen machen, Walter, aber den Kopf brauchen Sie doch nicht gleich zu verlieren«, redete ich ihm zu. »Ich bin da und bleibe so lange, bis Mr. Emerson wieder auf den Beinen ist. Ah, ich habe mir schon immer gewünscht, einige Zeit bei einer archäologischen Expedition verbringen zu können. Es hat keinen Sinn, Ihren Bruder anderswohin zu bringen, denn die Krise wird in wenigen Stunden zu erwarten sein. Keine Angst, mein Freund, denn er ist sehr kräftig, und ich bin ja da.«
Walter hockte neben mir auf dem Boden. Er beobachtete mich, als ich ein nasses Tuch auswrang und es auf Emersons Brust klatschte. Ganz unvermittelt nahm er mich bei den Schultern und küßte mich kräftig auf die Wange.
»Ich glaube Ihnen, Miß Peabody, daß ich keine Angst mehr zu haben brauche, denn Sie sind ja da. Sie würden sogar den Satan in die Flucht schlagen, wenn er Ihnen in die Quere käme.« Damit sprang er auf und rannte hinaus.
Ich legte meinem Patienten wieder ein frisches Tuch auf. Außer mir war niemand bei Emerson, und er schlief, so erlaubte ich mir ein Lächeln. Der liebe Gott hatte dem einen Emerson ungeheuer viel Charme geschenkt, dem anderen gar keinen. Arme Evelyn! Kein Wunder, daß sie sich so gründlich verliebt hatte. Dieser Emerson hier war allerdings keine Gefahr für eine Frau.
Aber ein gestürzter Koloß ist erbarmenswerter als ein gefallener Schwächling.
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