Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
Als ich ihm das heiße Gesicht kühlte, verloren sich ein paar Linien des Schmerzes, er seufzte wie ein Kind, und von da an schlief er ruhig.
Die Krise kam nachts, und wir hatten alle Hände voll zu tun. Bis zum Morgengrauen kamen Evelyn und ich nicht zur Ruhe. Walter hatte für uns ein Grab säubern lassen, und Michael hatte es recht gemütlich eingerichtet.
Aber wir verließen unseren Patienten nicht. Gegen Sonnenuntergang lag Emerson in Fieberfantasien, und wir brauchten unsere ganze Kraft, um zu verhindern, daß er sich oder uns durch sein Toben verletzte. Ich gab ihm noch ein paarmal Medizin ein, und in den ersten Morgenstunden fiel er in ein Koma, das entweder zum Tod oder zur Genesung führen mußte.
Diese Stunden waren schlimm. Das Fieber stieg trotz unserer Bemühungen. Walter kniete neben seinem Bruder. Meine Hände schmerzten vom ständigen Auswringen der Tücher, alle Knochen taten mir weh, besonders die meiner linken Hand, die Emerson in seinem Delirium ergriffen und lange nicht mehr losgelassen hatte. Das Fieber verlieh ihm unheimliche Kräfte. Aber ich hatte das Gefühl, als sei ich eine Art Lebensleine, die er nicht loslassen wollte, um nicht in den Abgrund des Todes zu stürzen.
Allmählich wurde ich so müde, daß mein Kopf wie leer erschien. Es war eine gespenstische Szene: Die rauchende Lampe warf flackerndes Licht auf das magere Gesicht des Kranken und die gespannten Gesichter seiner Pfleger. Ab und zu heulte draußen in der Wüste ein Schakal. Das klang in der Nachtstille sehr spukhaft.
In der dunkelsten Stunde vor Einbruch der Dämmerung kam dann der Umschwung. Er war so spürbar wie ein kühler Luftzug an der Wange. Für einen Moment schloß ich die Augen, und ich fühlte gar nichts. Da hörte ich einen unterdrückten Seufzer von Walter. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn quer über dem Fußende des Bettes liegen, und seine Hand ruhte auf dem Arm seines Bruders. Emersons Gesicht sah sehr friedlich aus. Dann hob sich seine Brust in einem langen, tiefen Atemzug – und bewegte sich weiter. Die Hand, die meine festgehalten hatte, erschlaffte. Und sie war kühl. Er würde also am Leben bleiben.
Ich war so verkrampft, daß ich nicht stehen konnte. Walter mußte mich mehr tragen als stützen, als ich endlich zu Bett ging. Er wollte für den Rest der Nacht bei seinem Bruder sitzen und Wache halten, doch ich glaubte nicht, daß ein Rückfall zu befürchten war. Ich schlief sofort ein, während Evelyn mir noch Gesicht und Hände wusch.
Als ich nach einigen Stunden erwachte, wußte ich gar nicht, wo ich mich befand. Um mich herum waren Steinwände, unter mir eine harte Unterlage statt einer weichen Couch.
Als ich mich umdrehte, tat ich einen Schmerzensschrei. Meine linke Hand, auf die ich mich gestützt hatte, war dick geschwollen.
Jetzt wußte ich wieder alles. Ich erhob mich und tastete nach meinem Schlafrock. Evelyn schlief an der Wand gegenüber den Schlaf der Erschöpfung. Ein Lichtstrahl fiel durch den schnell angebrachten Vorhang und vergoldete ihr Haar.
Als ich vor das improvisierte Schlafzimmer trat, traf mich die Hitze wie ein Schlag, aber die Aussicht, die sich mir bot, war großartig. Die Sandhügel der Wüste reichten bis zur blauen Biegung des Flusses, und die Felsen dahinter schimmerten wie nachgedunkeltes Gold. Die Ferne verschönte die Hütten des Dorfes, die Palmen veredelten sie. Etwa halbwegs zwischen dem Dorf und unseren Felsen schien ein Ameisenhügel lebendig geworden zu sein; das war die derzeitige Grabungsstätte.
Eine breite Felsleiste führte an den Gräbern entlang, und ihr folgte ich zum Nachbargrab, von wo zornige Rufe zu hören waren. Emerson ging es also wieder gut. Ich möchte hier ausdrücklich festhalten, daß meine Gefühle an jenem Morgen die reinster christlicher Nächstenliebe waren, denn Emerson tat mir leid, und das war ganz na
türlich bei einem Patienten, den man gepflegt hat. Aber dieses Gefühl hielt nur zwei Minuten an.
Als ich das ›Krankenzimmer‹ betrat, mühte sich Walter ab, seinen Bruder im Bett zu halten. Er war nur teilweise bekleidet. Seine Beine steckten in Hosen von unglaublicher Rosafarbe. Er schrie Walter an, der ihm einen kleinen Teller unter die Nase hielt.
Als er mich sah, hörte er zu brüllen auf, doch seine Miene wurde nicht freundlicher. Ich lächelte und besah mir das, was auf dem Teller lag. Zugegeben, ich vergaß mich und bediente mich einiger kräftiger Ausdrücke, die ich von meinem Vater gelernt hatte, doch das
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