Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
von dem Stein, auf dem er gestanden hatte. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »bedauerlicherweise empfängt Königin Tetischeri heute keine Gäste.«
Der Sarkophag war leer. Kein Holzstückchen und kein Knöchelchen befand sich darin.
Wegen der Menschenmassen mußten wir unsere Besucher auf der Amelia begrüßen. Trinksprüche wurden ausgebracht, und Masperos Glückwünsche mischten sich mit höflichen Beileidsbekundungen. Emerson zuckte nur die Achseln. »Eine kleine Enttäuschung, Monsieur«, entgegnete er gleichmütig. »Die Malereien sind Meisterwerke, und der Inhalt des Grabes ist trotz alledem eine Sensation. Man darf seine Erwartungen nicht zu hoch stecken.«
Nachdem die Honoratioren sich verabschiedet hatten, wandte ich mich an Emerson: »Du wußtest, daß der Sarkophag leer ist! Ansonsten hättest du es nicht so ruhig hingenommen.«
»Ja, ich habe damit gerechnet«, antwortete Emerson ungerührt. »Weißt du, mein Liebling, ich bin schon immer davon ausgegangen, daß es sich bei der kahlköpfigen, kleinen alten Dame aus dem Versteck von Deir el Bahri um Tetischeri handelt. Sie weist eine auffällige Ähnlichkeit mit anderen Familienmitgliedern auf, die man ebenfalls dort gefunden hat – die vorstehenden Schneidezähne sind ziemlich charakteristisch. Frag mich jetzt nicht, wie sie dorthin gekommen ist oder warum ihr leerer Sarkophag so sorgfältig wieder verschlossen wurde. Das ist ein Geheimnis und wird es vermutlich auch immer bleiben.«
»Ach, komm schon!« rief Walter aus. »Du hast doch bestimmt eine Theorie.«
Emerson hatte Sakko und Krawatte bereits abgelegt. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und holte die Pfeife aus der Tasche. »Was haltet ihr von einem Whiskey?« fragte er aufgeräumt. »Wir haben eine Menge zu feiern, meine Lieben. Eine Mumie mehr oder weniger tut da nichts zur Sache.
Ich habe mit meinen brillanten Schlußfolgerungen, was die Lage des Grabes angeht, ziemlich daneben gegriffen. Tetischeri ist ursprünglich anderswo beigesetzt worden und wurde in unser Grab umgebettet – und zwar von Hatschepsut, nachdem das Grab ihrer verehrten Ahnin beraubt oder bedroht worden war. Ich vermute letzteres, da ein Großteil der Grabbeigaben noch erhalten ist.
Damals hatten die Könige des neuen Reiches von Theben bereits verstanden, daß auffällige Bauwerke, wie beispielsweise Pyramiden, Grabräuber regelrecht anzogen. Hatschepsuts Vater ließ als erster sein Grab im Tal der Könige bauen – ›keiner weiß es, keiner sieht es‹ , wie sich der Baumeister des Königs brüstete. Hatschepsut hat ihr eigenes Grab so gut getarnt, daß es nie entdeckt wurde. Und für Tetischeri wählte sie einen ebenso verborgenen Ort. Sie ließ das Grab im damals üblichen Stil ausschmücken. Mit (für einen ägyptischen Herrscher jener Zeit) untypischer Bescheidenheit ließ sie ihr Abbild nur im Eingangskorridor anbringen. Die Reliefs und Inschriften stellten wahrscheinlich dar, wie sie ihre Ahnin getreu dem religiösem Brauch umgebettet hat.
Nach ihrem Tod begann ihr Neffe, den sie jahrelang unterdrückt hatte, ihre Denkmäler abzutragen. Wie ich die Sache sehe, sind seine Männer in Tetischeris Grab eingedrungen. Thutmosis, dessen Mutter von niedriger Geburt war, brauchte wahrscheinlich ein paar angesehene Ahnen. Er nahm Tetischeri und einige ihrer Grabgottheiten mit. Fragt mich nicht, warum er manche Dinge weggeschafft und andere liegengelassen hat. Im Gegensatz zu verschiedenen meiner Kollegen bin ich Archäologe und nicht Autor historischer Romane. Zuletzt zerstörten Thutmosis’ Diener die Malereien im Eingangskorridor, die Hatschepsuts Namen erwähnten.
In der Zweiundzwanzigsten Dynastie drang wieder jemand in das Grab ein; diesmal wurde eine Priesterfamilie darin beigesetzt, deren Särge von Dieben der Neuzeit aufgebrochen und zerstört wurden. Vielleicht haben sie auch die namenlose Mumie dort zurückgelassen, doch ich glaube eher, daß sie bereits da war und daß ihre Anwesenheit die Priester am Betreten der inneren Grabkammer hinderte.«
»Gut gemacht, Emerson«, sagte ich. »Im großen und ganzen stimme ich deiner Theorie zu, doch du hast uns noch nicht verraten, wer die namenlose Mumie sein könnte.«
»Aber Amelia!« rief Walter aus. »Nicht einmal du würdest … würdest wagen … Was ich eigentlich sagen wollte …«
»Eigentlich wollte er sagen«, erklärte Emerson, »daß nicht einmal deine blühende Phantasie ausreichen würde, eine stimmige Lösung für diesen Kriminalfall
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