Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
den 1. Januar 1900.
Nachdem ich gerade einen schwungvollen Schottischen mit Captain Carter hinter mich gebracht hatte, suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen hinter einer Topfpalme und gab mich den Gedanken hin, die wohl jeden grüblerisch veranlagten Menschen bei einem solchen Anlaß beschäftigen. Was würden die nächsten hundert Jahre einer Welt bringen, die immer noch unter den alten Geißeln der Menschheit, Armut, Unwissen, Krieg und der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, litt? Obwohl ich Optimistin und überdies mit einer ausgezeichneten Vorstellungsgabe gesegnet bin (und das im Übermaß, wie mein Mann behauptet), durfte ich nicht erwarten, daß sich alle diese Probleme in einem einzigen Jahrhundert lösen würden. Allerdings vertraute ich darauf, daß mein Geschlecht schließlich die Rechte bekommen würde, die ihm so lange verwehrt geblieben waren – und daß ich selbst diesen Freudentag noch würde erleben dürfen!
Berufe für Frauen! Das Wahlrecht für Frauen! Weibliche Anwälte und Ärzte! Weibliche Richter und Politiker! Frauen an der Spitze aufgeklärter Nationen, in denen das weibliche Geschlecht den Schulterschluß geschafft hatte und meine Bestrebungen unterstützte!
Meiner Ansicht nach hatte auch ich einen kleinen Beitrag zu den Veränderungen geleistet, die ich noch zu sehen hoffte. Eine Barriere hatte ich bereits niedergerissen: Als erste Frau führte ich archäologische Ausgrabungen in Ägypten durch und hatte bewiesen, daß ein »schwaches Weib« durchaus in der Lage war, dieselben Gefahren und Strapazen zu ertragen und denselben professionellen Ansprüchen zu genügen wie ein Mann. Allerdings zwangen mich Ehrlichkeit und auch zärtliche Gefühle zu dem Eingeständnis, daß ich ohne die rückhaltlose Unterstützung durch meinen Ehemann Radcliffe Emerson, dem bedeutendsten Ägyptologen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft niemals soviel erreicht hätte.
Obwohl es im Saal von Menschen wimmelte, zog er meinen Blick geradezu magnetisch an. Emerson ragt stets über seine Zeitgenossen hinaus. Sein hoher Wuchs, seine muskulöse Gestalt, seine markanten Züge, seine leuchtend blauen Augen, der dunkle Haarschopf über der Denkerstirn – ich könnte noch seitenlang fortfahren, Emersons körperliche und geistige Vorzüge zu beschreiben. Bescheiden danke ich dem Himmel dafür, daß er mich so reich gesegnet hat. Womit hatte ich die Liebe eines solchen Mannes verdient?
Nun, im Grunde hatte ich eine ganze Menge dazu beigetragen. Doch ich muß zugeben, daß mein eigenes Äußeres nicht unbedingt einnehmend ist (obwohl Emerson gewisse Teile meiner Anatomie durchaus schätzt). Widerspenstiges schwarzes Haar, stahlgraue Augen, eine Haltung, die eher würdig als anmutig wirkt, geringe Körpergröße – damit kann eine Frau eigentlich kein Herz gewinnen. Trotzdem war es mir gelungen, das von Radcliffe Emerson zu erobern, und nicht nur einmal, sondern sogar zweimal; während all der erstaunlichen Abenteuer, die unsere Arbeiten störten, hatte ich an seiner Seite gestanden und neben ihm gekämpft. Ich hatte ihn vor Gefahren gerettet, ihn gepflegt, wenn er krank oder verletzt war, ihm einen Sohn geschenkt …
… und diesen Sohn bis zu seinem augenblicklichen Alter von zwölfeinhalb Jahren großgezogen. Trotz meiner Bekanntschaft mit tollwütigen Hunden, Meisterverbrechern und Mördern beiderlei Geschlechts halte ich Ramses’ Erziehung für meine herausragendste Leistung. Wenn ich an alles denke, was Ramses angestellt hat, und mir überlege, wie oft andere Menschen ihm (häufig berechtigterweise) etwas antun wollten, wird mir noch immer ganz übel.
Im Augenblick stand Emerson da und unterhielt sich mit Ramses und dessen Adoptivschwester Nefret. Mit seinem rotblonden Haar und der hellen Haut unterschied sich das Mädchen völlig von meinem Sohn, der eher aussah wie ein Araber. Allerdings stellte ich jetzt überrascht fest, daß er inzwischen so groß war wie sie. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr er im letzten Sommer gewachsen war.
Ramses redete. Das tut er meistens. Ich fragte mich, was er wohl gesagt haben mochte, da Emerson finster die Stirn runzelte. Hoffentlich hielt er seinem Vater keinen ägyptologischen Vortrag. Obgleich Ramses in vielen Bereichen nur ein höchst durchschnittliches Talent an den Tag legt, ist er so etwas wie ein Sprachengenie und hat sich schon seit seiner frühen Kindheit mit dem ägyptischen Idiom befaßt. Emerson empfindet zwar einen väterlichen Stolz auf die
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