Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
auch seinen Sohn und David entführt und Nefret angegriffen, doch der entsetzliche Tod der jungen Frau hatte bei Emerson Handlungsbedarf signalisiert. Er versucht seine empfindsame Seite zu verbergen, doch wie jeder echte Engländer ist auch er zu allem fähig, wenn es um die Verteidigung und Unterstützung von Hilfsbedürftigen geht.
»Was schwebt dir vor?« wollte ich wissen.
»Was das Motiv in dieser Geschichte anbelangt, tappen wir nach wie vor im dunkeln. Der Papyrus ist unser einzig solider Hinweis, und diese Spur haben wir bislang noch nicht verfolgt. Wenn wir herausfinden, woher er stammt, sind wir vielleicht auch in der Lage, seinen letzten Besitzer zu ermitteln.«
»Bertha«, sagte ich.
»Verflucht, Peabody, wir wissen doch gar nicht, daß es sich so verhält. Wir haben uns eine nette Geschichte zurechtgelegt, aber es gibt keinen einzigen Beweis dafür, daß sie die Schuldige ist. Sethos andererseits …«
»Ihn verdächtigst du ständig. Für seine Schuld gibt es ebenfalls keinerlei Beweis.«
»Und du verteidigst diesen Bastard jedesmal! Ich beabsichtige, diesen Beweis zu erbringen. Ich habe bereits einige Nachforschungen angestellt, allerdings nur im Hinblick auf Yussuf. Ich habe den Papyrus nicht erwähnt. Ursprünglich stammte er aus Theben, also muß er durch die Hände eines der in Luxor ansässigen Händler gegangen sein. Mohammed Mohassib erscheint mir plausibel. Er ist seit dreißig Jahren im Geschäft, und er hat mit den kostbarsten Kunstschätzen gehandelt, die jemals aus den Grabstätten in Theben ans Licht befördert wurden. Du hast doch gehört, was Carter neulich über ihn gesagt hat. Kann es denn Zufall sein, daß er um meinen Besuch gebeten hat?«
»Nicht deinen, Emerson. Meinen.«
»Ist doch dasselbe. Ich werde ihm den Papyrus zeigen und ihm Verschwiegenheit und ewige Freundschaft versprechen, wenn er uns brauchbare Hinweise geben kann. Wir werden das Tal in aller Frühe verlassen und nach Luxor übersetzen.«
Einen Großteil der Nacht verbrachte ich friedlich schlafend. Erst im Morgengrauen wurde ich von einem gellenden Schrei aufgeweckt.
Es stand außer Frage, woher und von wem er stammte. Sogar Emerson schoß aus dem Bett. Natürlich fiel er umgehend über seine Stiefel, die er nachlässig auf dem Boden abgestellt hatte, deshalb erschien ich als zweite Person auf der Bildfläche. Die erste war Ramses. Der Raum war zwar stockfinster, doch ich erkannte seine Silhouette. Er stand neben Nefrets Bett und blickte auf sie hinunter.
»Was ist denn?« schrie ich. »Warum stehst du hier herum? Was ist passiert?«
Ramses drehte sich um. Ich hörte das Kratzen eines Streichholzes. Die Flamme flackerte auf und glühte, als er sie an den Kerzendocht hielt.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits alle an den Ort des Geschehens geeilt. Noch nie war ich so froh gewesen, daß ich stets auf anständige Nachtwäsche bestanden hatte. Alle waren mehr oder weniger verhüllt, sogar Emerson, auch wenn er viel nackte Haut entblößte. Sir Edward hatte nicht einmal seinen Morgenmantel übergeworfen, doch er trug einen geschmackvollen blauen Seidenschlafanzug.
Nefret setzte sich auf. »Es tut mir sehr leid«, setzte sie an, doch dann versagte ihre Stimme. Von Lachkrämpfen geschüttelt, beugte sie ihren Kopf über das riesige Bündel in ihren Armen. »Gütiger Himmel«, entfuhr es mir. »Wie ist er zurückgekommen?«
Ramses setzte die Kerze auf den Tisch. »Eines Tages werde ich dieses Vieh umbringen«, meinte er in beiläufigem Ton.
»Also, du weißt ganz genau, daß du das niemals fertigbrächtest«, sagte ich.
»Aber ich vielleicht«, bemerkte Emerson hinter mir. »Verflucht! Mein Herz schlägt doppelt so schnell wie sonst.«
»Es war mein Fehler«, behauptete Nefret. »Ich schlief tief und fest, und dann sprang er auf meinen Bauch, schnürte mir die Luft ab, und ich dachte …« Sie drückte Horus noch fester an sich. »Er hat es nicht so gemeint, nicht wahr?«
Es gelang mir, Ramses aus dem Zimmer zu bugsieren, bevor er sich in den unflätigsten Beschimpfungen ergoß.
Am nächsten Morgen fanden wir einen von Cyrus’ Bediensteten, der auf der Veranda hockte und geduldig auf uns wartete. Er hob den Saum seines Umhangs bis zum Knie und bat um etwas brennendes Wasser. Damit meinte er Jodtinktur, und der Zustand seines Schienbeins rechtfertigte eine größere Menge dieser Medizin, die ich sorgfältig auftrug. Katherine besaß ein vollkommen identisch ausgestattetes Medizinschränkchen (eines meiner
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