Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
Informationen über Jamil besitzt, kannst du ihm vielleicht die Augen öffnen. Wenn nicht – nun, nach meiner Einschätzung wird es höchste Zeit, dass er seinen Groll auf dich vergisst. Mag sein, dass wir heute noch keine echte Versöhnung bewirken, aber es wäre wenigstens ein Anfang. Du möchtest dich doch wieder mit ihm versöhnen, oder?«
»Er ist mein Vater«, sagte das Mädchen leise. »Ich habe ihn nicht verlassen, sondern er hat gesagt, ich solle gehen.«
»Ich bin sicher, dass er das inzwischen bereut, Jumana. Worte, im Zorn gesagt –«
»Verdammt und zugenäht, Peabody!«, brauste Emerson auf. »Jetzt ist nicht die Zeit, dass du dich in die Gefühlsangelegenheiten anderer Leute einmischst. Lasst es uns hinter uns bringen.«
Ein lauer Abend senkte sich über Oberägypten herab, als wir zu Yusufs Haus marschierten. Die ersten Sterne schimmerten am östlichen Himmel, die Felsen waren in diffuses Licht gehüllt; blassgraue Rauchfäden stiegen von den Kochfeuern hoch, wogten in der sanften Brise.
An der Tür empfing uns Mahira, wie eine mittelalterliche Hexe mit ihrer düsteren Miene.
»Höchste Zeit, dass ihr kommt. Was hast du mit meinem Mann gemacht?«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
Ununterbrochen redend, scheuchte sie uns durch das Haus. »Es war die Medizin, die du ihm gegeben hast. Zuerst ging es ihm besser, aber heute Morgen …« Sie riss die Tür zu dem Zimmer des alten Mannes auf. »Sieh selber. So ist er schon den ganzen Tag.«
Sie leuchtete mit der mitgebrachten Öllampe auf das Bett. Yusuf wand und wälzte sich und redete mit sich selbst – oder besser mit einem höheren Selbst –, ständig die gleichen Worte wiederholend. »Führe uns auf dem richtigen Weg derjenigen, denen du Gnade erweist …«
»Er hat Wahnvorstellungen«, wisperte Nefret, ihre Augen voller Mitgefühl. »Was hast du ihm gegeben, Mutter?«
»Zuckerwasser, das ist keine Wahnvorstellung, sondern nervöse Übererregbarkeit. Sprich du mit ihm, Emerson.«
Emerson zögerte nur kurz. Im Gegensatz zu anderen hat er keine Skrupel, die Heilige Schrift für seine eigenen Zwecke auszulegen. Seine sonore Stimme deklamierte die Fatiha, die erste Sure des Korans, aus der Yusuf zitiert hatte. »Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes. Gelobet sei Gott, der Herr der Welten.«
Yusuf setzte sich ruckartig auf. Seine wirren Augen glänzten wie die eines Tieres. »Soso«, sagte er. »Du bist das, Vater der Flüche. Bist du gekommen, um mich zu bestrafen, weil mein Schweigen deinen und den Tod der Sitt Hakim hätte bedeuten können?«
»Gütiger Himmel, nein«, entfuhr es Emerson, vor lauter Schreck in Englisch.
»Auch der Vater der Flüche ist gnädig und barmherzig«, erklärte ich und hoffte nur, dass es nicht zu blasphemisch klingen würde. »Wir sind hier, um dir zu helfen – dir und Jamil, wenn möglich. Wo ist er?«
»Ist das wahr? Es ist wahr, ihr lügt nicht. Ihr trachtet ihm nicht nach dem Leben?«
So ging es eine ganze Weile weiter, und wir mussten ihm immer wieder versichern, dass wir es nur gut mit Jamil meinten. Unter dem psychologischen Aspekt betrachtet, war es recht heilsam für Yusuf, aber ziemlich ermüdend für uns. Meine Diagnose erwies sich als korrekt; sein Unwohlsein war nicht physischer, sondern mentaler Natur, und durch die Nachricht von Jamils neuerlichem Anschlag auf uns, die er zweifellos an jenem Morgen erfahren hatte, war er hin- und hergerissen zwischen Loyalität und väterlicher Liebe und wusste sich nicht zu entscheiden.
»Ich werde euch zu ihm bringen«, jammerte Yusuf. »Wir treffen uns gelegentlich auf dem Friedhof in der Nähe der Moschee. Er wird heute Abend dort sein, wenn der Mond aufgeht.«
»Abdullahs Grab«, schloss ich. »An diesem friedvollen Ort zu beten, war nur ein Vorwand, um deinen Sohn zu treffen?«
Er musste die Empörung in meiner Stimme gehört haben. Der alte Mann schrak zusammen. »Es war kein Vorwand. Ich habe dort gebetet. Dass mein Cousin Abdullah mir verzeiht und Gott bittet, mir zu vergeben.«
Er hatte Jumana wie Luft behandelt. Gleichwohl schien mir dies nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm einen kleinen Denkanstoß zu geben, dass auch er seiner Tochter verzeihen müsse.
Der Friedhof war auf der Nordseite des Hügels, auf einem Felsplateau. Über der Anhöhe schwebte das silberne Rund des Mondes, tauchte die Landschaft in sein mattes Licht. Abdullahs Grabmonument schimmerte wie Schnee.
Am Rand des Friedhofs, noch immer im Schatten der Felsen,
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