Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
»Und wenn irgendwas schief läuft?«
»Hab ich dir doch gesagt. Dann rennst du.«
»Kein sonderlich konstruktiver Plan«, murmelte Chetwode. Seine Mundwinkel zuckten – vielleicht der Versuch eines Lächelns.
Ramses fasste einen Entschluss. Eines von vielen Problemen, das ihm den Schlaf geraubt hatte, war der Gedanke an seine besorgte Familie, die in Khan Yunus wartete.
»Wenn du entkommen kannst und ich werde gefasst oder getötet«, sagte er, »geh zum Haus von Ibn Rafid in Khan Yunus, Es ist auf dem Hauptplatz, das größte Haus in der Stadt – jeder kann dir zeigen, welches es ist. Hinterlasse eine schriftliche Mitteilung für …« Ihm dämmerte schlagartig, dass er nicht wusste, welchen Decknamen Emerson zurzeit benutzte. »Für den derzeitigen Hausherrn. Darin schilderst du, was mir zugestoßen ist.«
»Ist er einer von uns?«, erkundigte sich Chetwode.
»Nein.« Die Neugier des Jungen stellte ihn vor die Frage, ob er das Richtige getan hatte. Die Alternative wäre allerdings schlimmer gewesen – sie womöglich Tage lang im Ungewissen über sein Schicksal zu lassen. Vielleicht würden sie sogar in Gaza eindringen, um ihn zu suchen. Geduld war keine ihrer Tugenden; und im schlimmsten Fall wäre sicheres Wissen besser als falsche Hoffnung.
Chetwode stellte keine weiteren Fragen.
Nachdem sie das restliche Brot und Obst vom Nachtmahl vertilgt hatten, führte Ramses seinen Begleiter auf Umwegen zurück in den Stadtkern. Die Moschee war in der Nähe des Askalon-Tors. Ramses fand ein Kaffeehaus – ein anderes als das vom Vortag – und sie richteten sich auf eine längere Wartezeit ein.
Im Verlauf des Vormittags füllten sich die Cafés, man traf sich und plauderte. Etwa eine halbe Stunde vor Mittag tauchte die Prozession auf. Sie war klein, aber beeindruckend, angeführt von einem halben Dutzend berittener Männer, in weiten Hosen und goldbetressten Jacken, seidene Schärpen um ihre Taillen gebunden. Sie trugen Langschwerter und Pistolen. Die Pferde waren prachtvolle Tiere, Zaumzeug und Steigbügel mit Silber beschlagen. Kein regulärer türkischer Trupp, sondern die Leibwache irgendeines bedeutenden Offiziers. Sie machten sich brutal und effektiv den Weg frei, indem sie die Breitseiten ihrer Schwerter einsetzten. Da er die meisten Zuschauer um einen Kopf überragte, vermochte Ramses das Schauspiel recht gut zu verfolgen; das Ende der Prozession schien eine weitere Garde zu bilden. Zwischen den Leibgarden waren mehrere Reiter: der Gouverneur, glänzend im Goldstaat, sein feistes Gesicht feierlich ernst; und, neben ihm, flankiert von zwei Offizieren in türkischen Uniformen …
Ramses erhaschte nur einen Blick auf das bärtige Profil und die auffällige Hakennase, als ein Schuss losging, so nah an seinem Ohr, dass er für Augenblicke wie taub war. Er wirbelte herum und schlug Chetwode die Waffe aus der Hand. Der zweite Schuss detonierte.
»Du gottverfluchter Idiot!«
Chetwodes Lippen bewegten sich. Ramses verstand nicht, was er sagte; die Leute um sie herum schrieen und schoben, einige versuchten den Möchtegern-Attentäter einzukreisen, andere versuchten sich in Sicherheit zu bringen. In den Augen der osmanischen Offiziere waren alle verdächtig.
»Renn!«, schrie Ramses und unterstrich den Befehl mit einem ordentlichen Schubs. Chetwode funkelte ihn verständnislos an und gab Fersengeld. Ramses stellte einem seiner Häscher ein Bein, schlug einen weiteren nieder, duckte sich unter dem ausgestreckten Arm eines Dritten hindurch und stürmte in Richtung Moschee.
»Das ist der Mann! Haltet ihn!«, brüllte jemand in Türkisch. Er vernahm den Hufschlag hinter sich und warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht niedergetrampelt zu werden, doch die kurze Verzögerung war fatal. Als er sich aufrappelte, war er umzingelt von der Operettenhaft uniformierten Garde, samt und sonders mit heroisch gezückten Waffen.
»Keine Waffengewalt«, befahl der Offizier. »Wir wollen ihn lebend.«
Ramses erwog seine Optionen. Ihm fielen nur zwei ein, beide wenig reizvoll. Er könnte sich winden und winseln und alles abstreiten – oder es gegen sechs Männer aufnehmen. Beides liefe auf das Gleiche hinaus, also beschloss er, sich wenigstens eine kleine Prügelei zu gönnen.
Er hatte zwei von ihnen am Boden und einen Dritten auf den Knien, als ein Wurfgeschoss empfindlich seine Schläfe traf und er für einen entscheidenden Augenblick das Gleichgewicht verlor. Flach auf dem Rücken – vier von ihnen hielten
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